Angstspiel
habe.
Mein Betriebssystem ist endlich da. Ich rappele mich hoch, schüttele den Kopf. Um die Bilder loszuwerden und die verklebten Haare zu lösen. Draußen hat das angefangen, was meine Mutter gerne mit verklärtem Blick »Die blaue Stunde« nennt.
Der Abend frisst den Tag auf. Saugt die Farben raus, atmet das Licht ein. Ich lasse die Rollladen runterknallen, ehe ich mein Licht anknipse. Harte Schlagschatten um mich rum. Ich bin so fertig. Meine Knochen tun weh. Meine Muskeln sind verspannt. Hinter meiner Stirn ein dumpfer Druck. Um mich herum nur Stille. Als würde die Nacht auch alle Töne in der Welt ersticken. Schallwellen glatt ziehen. Ich fühle mich wie in einem Raumschiff, das
durchs Weltall taumelt. Kein Kontakt mehr zur Erde. Schlimmer. Kein Kontakt mehr zu mir.
Ich gehe unter die Dusche. Schiebe den Hebel nach ganz links. Verbrühe fast. Schiebe ihn ganz nach rechts. Es tut genauso weh. Ist es nicht komisch, dass sich ganz heißes und ganz kaltes Wasser im ersten Moment gleich anfühlen?
Als ich zurück in mein Zimmer gehe, fällt mir wieder diese alles betäubende Stille auf. Hier unten ist es immer ruhig. Aber nicht so tonlos ruhig. Ich klopfe leise bei meinem Opa an. Schon beim zweiten lauteren Klopfen habe ich so ein komisches Gefühl. Mir wird kälter als gerade unter der Dusche. Ich mache die Tür auf.
Der Vorhang flattert ganz leicht durch die Terrassentür ins Zimmer. Mein Opa sitzt mit dem Rücken zu mir an seiner Schreibmaschine. Er tippt nicht. Er ist vornübergesunken. Ich weiß sofort, dass er tot ist. Ich kann nicht näher zu ihm gehen. Traue mich nicht. Sieben Minuten stehe ich da so. Ich weiß das, weil direkt über ihm im Regal ein Radiowecker steht. Ich sehe, wie die Zahlen sich ändern. Wie die Zeit einfach weitergeht. So langsam und schnell wie immer. Als sei nichts passiert.
Ich habe mich später manchmal gefragt, ob ich was hätte ändern können. Ob ich ihn hätte wiederbeleben können. Mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Herzmassage und so. Aber erstens weiß ich überhaupt nicht, wie man das macht, und ich glaube nicht, dass das so einfach ist, wie das in Ärzte-Serien immer aussieht. Und zweitens wusste ich einfach schon in dem Moment, dass sein Leben schon aus diesem Raum verschwunden war. Er war einfach nicht mehr zwischen hier und dort. Er war schon dort, als ich ins Zimmer kam.
Sieben Minuten habe ich auf seinen gebeugten Rücken
geguckt. Auf seine Hand auf der Schreibmaschine. Er hat da nur noch selten gesessen. Früher hat er da stundenlang was getippt. Manchmal Briefe, manchmal Kommentare zu Fotos, die er dann mit ins Album geklebt hat. Auf Geburtstagsfeiern oder anderen Anlässen hat er gerne Reden gehalten. Manchmal sogar selbst verfasste Reime vorgetragen. Und wenn er sich mal vertippte, hat er eine kleine Flasche mit einer weißen Flüssigkeit gezückt, den falschen Buchstaben umständlich überlackiert, die Farbe trocken gepustet und dann den richtigen Buchstaben darübergehauen. Dabei hat er noch nicht mal weißes Papier benutzt, sondern so beigegelbes aus Altpapier. Seine weiße Farbe darauf sah immer aus wie Vogelkacke.
Wie kann ich jetzt an Vogelkacke denken?
Ich gehe rückwärts raus, schließe ganz leise die Tür. Als ob es ihn stören würde, wenn ich lauter wäre. Oben in der Wohnzimmertür bleibe ich stehen. Ich sehe meiner Mutter zu. Sie dekoriert irgendetwas mit Muscheln. Das, was ich ihr gleich sagen werde, wird ihr so wehtun. Sie liebt ihren Vater so. Oft habe ich gesehen, wie die beiden so ganz verstohlen, so ganz nebenbei einen Hauch von Zärtlichkeit austauschten. Eine Hand auf der anderen, eine kurze Berührung am Arm, ein verschworenes Lächeln.
»Großvater ist tot«, sage ich ruhig.
Sie schaut auf und ich kann sehen, wie die drei Worte sie erreichen, in sie eindringen, ihren ganzen Kopf ausfüllen. Sie schließt kurz die Augen. Ein letzter verzweifelter Versuch, diesem Satz zu entkommen. In diesem Moment weiß ich genau, warum man sagt: »Die Augen vor etwas verschließen.« Sie versucht es, obwohl der Satz längst in ihrem Inneren ist. Sie sieht mich an. Ihr Blick sagt: »Bitte nicht. Bitte, bitte nicht.« Es tut mir so weh zu sehen, wie die Trauer sie langsam umhüllt. Wie ein letzter Rest Unglauben in ihren Augen stirbt, der Gewissheit das Feld
räumt. Sie legt ganz langsam die Muschel weg, die sie noch in der Hand hatte. Fast befürchte ich, dass sie jetzt aufräumt. Sie würde so gerne ausweichen. Dabei umgibt sie die Traurigkeit doch
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