Angstspiel
Ich hatte einfach so ein komisches Gefühl.«
Er streichelt mir den Oberarm. Das hasse ich, aber ich habe es noch nie gesagt.
Luise kommt rein, kniet sich vor mich hin und legt ihren Kopf auf meine Oberschenkel. »War es schlimm?«
Ich schüttele wieder den Kopf.
Es war nicht schlimm. Es ist schlimm. Opa ist wegen
mir gestorben. Weil es irgendjemand auf mich abgesehen hat. Ich kann es nicht sagen. Alle würden wissen wollen, warum ich nicht längst was erzählt habe. Und alle würden denken: Opa könnte noch leben.
Ich kraule Luise leicht hinterm Ohr.
»Es war nicht schlimm. Es war traurig.«
Es klingelt.
Es klingelt noch öfter heute Abend.
Erst kommt ein Arzt. Dann wird Opa abgeholt. Kurz vorher gehe ich noch mal rein. Jemand hat ihn auf sein Bett gelegt. Er sieht so lieb aus. Ich möchte weinen, kann nicht. Ich halte seine Hand und sage ihm in Gedanken, was mir durch den Kopf schießt. Wie leid es mir tut. Dass ich nicht ahnen konnte, dass so etwas passieren würde. Als ich aufstehe, sehe ich die zwei Steinchen auf dem Teppichboden. Es sind zwei Kieselsteine. Ich hebe sie beiläufig auf und weiß doch schon, woher sie kommen.
Am nächsten Morgen werfe ich die Steine auf den Weg neben dem Haus. Sie verschwinden sofort in der Menge, fallen überhaupt nicht mehr auf. Mein Opa selber wird sie nicht unter den Schuhen in sein Zimmer geschleppt haben. Er ging nie durch den Garten. Da war er ganz eigen. Wenn er draußen sitzen wollte, setzte er sich auf seine kleine Terrasse. Wenn er dann was von uns wollte, nahm er den offiziellen Weg über die Treppe drinnen. »Ich platze doch nicht einfach so in euren Garten«, hat er mal empört gesagt, als meine Mutter ihn darauf angesprochen hatte. Als müsste er Angst haben, meine Eltern in flagranti oder Luise und mich beim Kiffen zu erwischen. Mein Opa konnte sehr förmlich sein.
Am schlimmsten ist nicht diese andauernde Stille nebenan. Am schlimmsten ist diese Starre in mir. Ich kann nicht
mitweinen. Luise und meine Mutter weinen zusammen. Sie sitzen auf dem Fußboden, gucken sich alte Fotos an und schluchzen immer wieder auf. Mein Vater leidet auf seine leise Art mit ihnen, und ich gehöre nicht dazu. Als wäre ich mit so einer Frischhaltefolie überzogen, die mich trennt. Es sind immer die gleichen Worte in meinem Kopf: Er ist wegen mir gestorben. Ein paar Mal habe ich mich schon vor den Spiegel gestellt, mir selber gesagt, dass er alt war. Dass sein Herz schon so viel erlebt hatte, so viele Schrammen abgekriegt hatte. Opa hatte schon mal einen leichten Herzinfarkt gehabt und einen Bypass bekommen. Er wusste, dass sein schwaches Herz wahrscheinlich sein Leben beenden würde. Und ich glaube sogar, er hatte keine Angst davor. Er hat nicht viel getan, um sein Herz in Schwung zu halten. Er hat nicht geraucht. Er hat ab und zu mal ein Glas lieblichen Weißwein getrunken, im Sommer mal ein Bier. Das war’s. Aber er war auch nicht zu diesem Herzsportturnen gegangen.
»Ich setze mich nicht auf einen großen Gummiball und hüpfe damit durch einen Mehrzweckraum. Das ist mir zu albern«, hatte er damals verkündet. Mein Opa widersprach nicht oft. Aber in dem Punkt blieb er eisern. Vielleicht hat er sich aber auch gedacht, dass es vielleicht schöner ist, wenn einfach das Herz von jetzt auf gleich den Dienst einstellt, als wenn man langsam und schmerzhaft vom Krebs aufgefressen wird. Einige seiner Freunde sind so gegangen. Schleichend wurden sie immer weniger. Der Krebs wurde weggeschnitten, dann schmolzen die Kilos. Die Haare fielen aus, es wurde noch mal geschnippelt. Sie konnten nicht mehr essen und verschwanden nach und nach wie ein Schneemann in der Sonne. Mein Opa war auf einigen Beerdigungen gewesen, wo die Sargträger außer dem Sarg nicht mehr viel tragen mussten.
Das alles sage ich mir und trotzdem fühle ich mich schuldig.
Und ich kann noch nicht mal mit Julchen drüber reden.
Sie hat sich bei mir gemeldet. Per SMS. Ich habe es ihr geschrieben. Kurz und kühl. Dass mein Großvater gestorben sei. Mehr nicht. Ich glaube, sie hat sich nur aus Pflichtgefühl bei mir gemeldet. Natürlich antwortet sie, dass es ihr total leidtue, dass ich mich jederzeit bei ihr melden könne und so. Ich glaube ihr irgendwie nicht. Ich glaube vielmehr, dass sie ganz froh darüber ist, wenn ich ein paar Tage nicht zur Schule komme. Da muss sie mir nicht ausweichen oder mich aushalten.
Umso überraschter bin ich natürlich, als ich sie in der Kapelle sehe. Sie ist
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