Angstspiel
für mich keine Zeit mehr hat. Das wäre ja wohl wirklich etwas viel verlangt.
Ich spüre, wie mein Magen sich zusammenzieht.
Ich darf Julchen noch nicht mal böse sein. Ich habe ja nur Lillys Platz eingenommen, weil die plötzlich weg war. Jetzt muss der Platzhalter gehen.
Mein Magen kann sich sehr weit zusammenziehen. Er ist leer. Beim Kaffeetrinken in diesem Restaurant habe ich keinen Bissen runtergekriegt. Mir fällt auf, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. Auch egal. So schnell werde ich nicht verhungern.
Und selbst wenn …
Ich löse mich auf. Schon beim Aufwachen hatte ich so ein diffuses Gefühl. Als würden meine Grenzen nicht mehr stimmen. Als gebe es kein klares Innen und Außen mehr. Meine Gedanken verwirren mich. Beim Frühstück bleibt mein Blick an meiner Hand hängen, die schlaff neben dem Teller liegt. Sie kommt mir fremd vor. Als wäre sie kein Stück von mir. Panisch balle ich die Faust. Sie gehorcht mir noch. Aber ich spüre sie nur, wenn ich sie bewege.
Ich verliere das Gefühl für mich.
Nach dem Frühstück dusche ich ein zweites Mal. Ich spüre, dass ich nass werde, aber ich fühle es nicht wirklich.
Ich lege mich im Bademantel wieder ins Bett, fühle mich wie ein leeres Haus. Ich selber hocke irgendwo im Keller. In der letzten Ecke.
Ist es das, was er will?
Will er mich hier haben, verzweifelt und die Türklinke zum Verrücktwerden schon in der Hand?
Immer wieder höre ich dieselben traurigen Lieder. Singe sie tonlos mit. Immer wieder Xavier Naidoo-»Bitte gib nicht auf«. Doch das ist nicht so einfach. Der Samstag wird vom Sonntag abgelöst. Fühle mich wie in einer dieser Schneekugeln. Ab und zu wirbelt die Panik in mir die Gedanken hoch. Aber der Sturm legt sich wieder. Ich bleibe in meiner Höhle. Gehe zu den Mahlzeiten nach oben. Meist reicht es mir zu wissen, dass Luise und meine Eltern da sind. Höre sie über mir hin und her gehen, höre
sie reden. Höre nicht, was sie sagen. Ist auch nicht so wichtig.
Am Sonntagnachmittag kommt Luise zu mir runter. Wir reden über die Beerdigung. Wie schön es war, zu sehen, wie viele Menschen unseren Opa gerngehabt haben. Von der dicken Bäckerin bis hin zu dem Studenten aus dem Nachbarhaus waren sie alle da. Auch Merlins komplette Familie. Heike hat in der Kapelle Mamas Hand gehalten. Und Tante Ines war angereist und sogar mit in die Kapelle gekommen, obwohl sie Atheistin ist. Ich denke laut nach, wer wohl zu meiner Beerdigung kommen würde. Luise lacht: »Na, das wird wohl noch eine Weile dauern.« Ich denke: Wer weiß.
Als Luise irgendwann sagt: »Komm mit hoch«, gehe ich mit. Wahrscheinlich ist sie ohnehin von meinen Eltern runtergeschickt worden, um mich ans Licht zu locken. Mama und Papa wollen mich aus meiner Trauer holen. Sie können ja nicht ahnen, was in mir tobt. Ahnen nicht, dass ich verfolgt und bedroht werde. Ahnen nicht, dass ich an Opas Tod schuld bin. Ahnen nicht, dass die Schule für mich die Hölle ist. Und deswegen blocken sie auch ab, als ich auch für Montag um eine Entschuldigung bitte. Ich will, will, will nicht in die Schule.
»Süße, das Leben geht weiter. Wir vermissen Opa auch. So sehr. Aber vergrab du dich jetzt nicht. Und ehrlich: Meinst du, Opa hätte gewollt, dass du das Abi nicht schaffst, weil du so um ihn trauerst? Bestimmt nicht. Er war so stolz, dass du es aufs Gymnasium geschafft hast. Da kannst du doch jetzt nicht kneifen.«
Meine Mutter streichelt fast unspürbar meine Hand, als sie das sagt. Ich muss mich sehr konzentrieren, nicht zuzugreifen. Nicht ihre Finger zu umschlingen und zu bitten: »Halt mich. Halt mich fest.«
Ich nicke nur.
Die Trauer um meinen Opa hatte sich wie eine schwere graue Filzdecke auf mein Leben gelegt. Darunter war alles dumpf, dunkel. Es war schwer. Aber auch warm. Als ich am Morgen aufstehe, schlage ich nicht nur die Bettdecke zurück. Auch der kratzige Filzbelag wird weggezogen. Ich muss raus in die Kälte. Und es ist eisige Kälte, die mir an der Schule entgegenschlägt. Blicke verfolgen mich, gemeine Bemerkungen werden in meine Richtung abgeschossen. Eine Wand aus Rücken bildet ein Spalier zur Tür. In mir tobt eine andere Angst. Was, wenn Lilly wieder zurück ist? Wieder hier zur Schule geht? Vielleicht hat die Gastfamilie sie ja rausgeworfen. Was, wenn ich jetzt in den Klassenraum komme und sie sitzt da ganz selbstverständlich neben Julchen? Ich habe es mir auf dem Weg bestimmt hundert Mal vorgestellt. Die beiden sitzen nebeneinander.
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