Angstspiel
Julchen guckt kurz hoch, lächelt flüchtig, beugt sich dann wieder zu Lilly. Und ich stehe da. Weiß nicht, wohin mit mir.
Ich komme rein. Julchen sitzt da alleine. Tippt irgendwas in ihr Handy.
»Ist hier noch frei?«, frage ich ganz vorsichtig und zeige auf den Stuhl neben ihr.
Sie guckt irritiert hoch.
»Linda, das ist dein Platz.«
»Ich dachte, dass Lilly wieder hier ist und vielleicht hier sitzen will.«
Ganz langsam lasse ich mich auf den Stuhl gleiten.
»Lilly? Nee, die war nur am Wochenende da, weil ihr Vater Geburtstag hatte. Hast du sie erkannt? Schade, dass ihr nicht miteinander reden konntet.«
»Ja, sehr schade.«
Als ob ich mich mit Lilly anfreunden wollte.
Sie tippt weiter auf ihr Handy. Scheint eine sehr lange SMS zu sein. Oder sie tut nur so, um sich nicht mit mir weiter unterhalten zu müssen.
Ich hole mein Englischbuch raus, lese immer wieder die gleichen Sätze, ohne auch nur irgendwas zu verstehen.
»Ist was? Bist du noch so traurig wegen deines Opas?«
»Nee, alles gut.«
»Du bist so still.« Sie guckt mich kurz von der Seite an.
»Ich wollte dich nicht stören.«
Sie lacht ihr fröhliches kleines Lachen.
»Süße, ich bin ein Mädchen. Ich bin Großmeister im Multitasking. Ich kann simsen und reden gleichzeitig.«
»Stimmt, ich hatte vergessen, dass es eigentlich nichts gibt, was du nicht kannst.«
Ich weiß gar nicht, warum ich so fies bin. Aber ich kann nicht anders. Ich wäre gerne jemand anderer.
Als ich nach der großen Pause in den Chemieraum komme, spüre ich die Anspannung im Raum. Ich gehe zu meinem Platz. Auf dem Stuhl liegt ein stinkender Hundescheißhaufen. Auf dem Tisch ein Zettel: Wir sind eben scheiße. Alle beobachten mich ganz offen. Es wird ganz ruhig. Julchen hat gerade Philosophie. Sie kann mir nicht helfen. Ich rolle den Stuhl ganz langsam nach hinten, versuche nicht auf den Kackhaufen zu gucken. Wer sagt mir überhaupt, dass der von einem Hund ist. Ich parke den Stuhl in der letzten Ecke, nehme mir einen anderen Stuhl von hinten, rolle ihn an meinen Platz und setze mich.
Es dauert keine fünf Minuten. Der Chemielehrer hat gerade erst eins seiner dubiosen Experimente aufgebaut, als sich irgendjemand meldet: »Herr Binder, hier hinten stinkt irgendwas ganz fies.«
Der Binder ist Gestank gewöhnt. Seine Versuche haben seine Geruchsnerven schon ziemlich strapaziert. Als er nach mehrmaliger Aufforderung doch endlich nachschaut und schließlich vor dem Haufen steht, guckt aber auch er total angewidert.
»Wer war das?«
Ich weiß genau, was jetzt kommt.
Alle schauen demonstrativ auf mich.
»Linda?« Der Binder guckt mich verwundert an. Überlegt er jetzt allen Ernstes, ob ich auf den Stuhl gekackt habe?
»Ich war das nicht«, sage ich leise.
»Hast du nicht gerade den Stuhl dahin gerollt?«, fragt Marvin unschuldig.
Das Arsch.
»Ja, aber …«
Weiter komme ich natürlich nicht.
Der Binder fällt mir ins Wort: »Dann rollen Sie ihn jetzt bitte raus und säubern ihn.«
Hätte es Sinn zu widersprechen? Würde mir der Binder glauben, wenn ich ihm sage, wie es wirklich war?
Natürlich nicht. Als ich aufstehe, sagt Marvin: »Nimm doch deine Jacke und deine Tasche gleich mit. Wiederkommen lohnt nicht.«
Ich tue es. Ich schiebe den Scheißhaufen vor mir aus der Tür raus und fühle mich genauso.
Vom Dachgarten aus hat man einen guten Blick über die Stadt. Eigentlich darf man hier natürlich nur mit einem Lehrer hoch. Die Tür zu dem kleinen Treppenhaus ist immer gut verschlossen. Man kann aber auch einfach aus dem Fenster des Musikraums klettern und steht mitten zwischen Petersilie und Dill. Irgendwann ist hier oben mal ein Kräutergarten angelegt worden. Bestimmt das Projekt einer eifrigen Referendarin. Sie scheint nicht mehr an der Schule zu sein. Alles ist verwildert.
Wenn ich jetzt richtig viel Glück habe, muss Marvin jetzt aufs Klo. Und zwar groß. Er wird vor der Kabine stehen
und warten. Der Druck wird größer und irgendwann wird er an die verschlossene Tür klopfen. Es wird aber keiner antworten. Vielleicht riecht er dann auch schon, was Sache ist. Ich habe den Kackstuhl einfach aufs Jungenklo geschoben. Ich wollte ihn da erst einfach so stehen lassen. Dann hatte ich eine bessere Idee. Ich habe ihn in die einzige Kabine geschoben, von innen abgeschlossen und bin dann über die Kabinentür rausgeklettert. Dabei habe ich mir den Ellenbogen aufgeschürft, aber das war es wert.
Erst als es unter mir laut wird, merke ich,
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