Angstspiel
allen Ecken und fallen über mich her. Ich fühle mich wie ein verletztes Tier. Die Würmer und
Maden sind auch schon da. Ich kann sie sehen. Ich kann sie nicht verscheuchen.
Am Morgen kommt meine Mutter mit Zwieback und schwarzem Tee. Allein bei dem Geruch zieht sich mein Magen auf Golfballgröße zusammen. Irgendwas will wieder raus. Ich sitze auf dem Klo und heule. Habe fast nicht mehr die Kraft, mir den Po abzuwischen. Ich bin ein stinkender Zellhaufen, ich rieche nach Verwesung und Fäulnis.
Lu kommt leise in mein Zimmer und sagt: »Ich fahre dann ohne dich zu deiner Schule. Soll ich irgendjemand von dir grüßen?«
Ich gucke sie traurig an. Stelle mir vor, sie würde liebe Grüße von Linda verteilen. Ein Hohn.
»Lass mal. Morgen bin ich bestimmt wieder fit«, behaupte ich.
Als sie weg ist, dämmere ich wieder weg. Es fühlt sich an, als würde das Salz auch langsam mein Gehirn auffressen. Wie so Domestos-Zeug den Dreck wegätzt, ätzt sich dieses Salz durch meinen Körper, meinen Kopf.
Immer wieder wache ich kurz auf, die Bilder aus meinem Traum sind noch zum Greifen nah, aber auch schon ein paar Zentimeter zu weit weg. Ich wälze mich hin und her, liege irgendwann so eingewühlt unter der Decke, dass ich ganz nass aufwache. Mein Gesicht ruht auf einer sehr feuchten Stelle. Als hätte ich im Schlaf geweint. Ich drehe das Kissen um, falle wieder in ein Loch. Ich träume von Arne Becker. In meinem Traum kann er laufen. Wir gehen Hand in Hand an einem Fluss spazieren. Irgendwann holen wir uns ein Eis. Plötzlich wird das Gesicht des Eisverkäufers zu einer Fratze. Der Mund wird riesengroß. Ein fürchterliches Lachen dringt daraus. Als ich mich entsetzt zu Arne umdrehe, hat auch der ein Zombielachen. Die Augen sind blutrot. Ich gucke an mir runter, sehe, dass ich blute. Ich wache auf, gehe mit schmerzenden
Knochen zur Toilette und stelle entsetzt fest, dass ich wirklich blute. Es tropft in die Kloschüssel. Ich schreie auf, springe auf, gucke in den Spiegel. Ich muss mich sehen. Muss sehen, dass ich normal aussehe. Erst lasse ich mir kaltes Wasser über die Hände laufen, dann schippe ich es mir ins Gesicht. Es hilft noch nicht. Ich ziehe mein T-Shirt über den Kopf, bespritze meinen Oberkörper und den Badezimmerboden mit eiskaltem Wasser. Ich muss zu mir kommen. Ich höre meine Zähne klappern. Als ich das große Handtuch vom Haken ziehe, reiße ich einen kleinen Hocker mit um. Nur wenige Minuten später steht meine Mutter in der Tür.
»Ist alles in Ordnung?«
Sie sieht mich mitleidig an, dann wandert ihr Blick zur Toilette und dem Blut.
»Hast du auch noch deine Tage gekriegt? Ausgerechnet. Das fehlt ja jetzt noch.«
Meine Tage.
Natürlich. Ich habe meine Tage bekommen. Wieso bin ich da nicht selber drauf gekommen? Ganz kurz habe ich gedacht, dass das Gift sich jetzt langsam durchgefressen hat. Bis zu den Organen. Dass ich langsam ausblute. Ich habe das Gefühl, dass nichts, wirklich gar nichts mehr, was früher zu mir, zu meinem Leben, meinen Gedanken gehört hat, noch da ist. Wann hatte ich das letzte Mal meine Periode? Als ich im Fahrradkeller eingesperrt war? Als die Busenfotos von mir im Netz waren? Als das Herz mich so geschockt hat? Er wüsste es wahrscheinlich. Er hat wahrscheinlich gesehen, wie ich Tampons gekauft habe.
»Hast du noch Tampons?«
Meine Mutter streichelt mir sanft über den nackten Rücken.
Ich ziehe schnell wieder das verschwitzte T-Shirt über.
»Ja, ja. Schon gut.«
»Du bist klatschnass. Ich hole dir ein frisches Shirt.«
Sie kommt mit einem Schlafanzug zurück und hilft mir beim Anziehen. Ich fühle mich ein bisschen wie ein kleines Kind, rieche das Waschmittel, meine Mutter zieht das Oberteil hinten runter. Fast warte ich drauf, dass sie mir noch das Gesicht eincremt wie früher nach dem Baden.
»Ist dein Bettzeug auch so verschwitzt?«
»Geht schon.«
Natürlich traut sie meinen Worten nicht. Sie fühlt kurz an Decke und Betttuch und verkündet: »Ich beziehe das neu. Das ist ja total feucht. Hinterher holst du dir auch noch eine Erkältung.«
Ich sitze in eine Wolldecke gehüllt in meinem Sessel, während sie das Bett frisch bezieht. Ich hätte gerne gesagt: »Ich mach das schon«, aber ich konnte nicht. Ich konnte es nicht sagen und ich hätte es auch nicht machen können. Ich bin so schlapp. Und es fühlt sich so gut an, dass sie sich so kümmert. Dass ich jetzt nicht alleine bin. Als ich mich ins Bett lege, deckt sie mich zu, streichelt mir ganz zart
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