Angstspiel
dir schlecht? Hast du dir den Magen verdorben?«, fragt meine Ma sofort.
Den Magen verdorben. Diese Formulierung fand ich schon immer strange.
»Nee, ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich gehe einfach mal ins Bett«, sage ich leidend.
Ich spüre den prüfenden Blick von ihr auf meinem Rücken, als ich rausgehe.
Jetzt weiß ich natürlich nicht, wie viel man von dem Zeug nehmen muss. Ich habe die blöde Anleitung oben vergessen. Und ich will nicht noch mal hoch. Keinen Bock auf weitere doofe Fragen. Glaubersalz - das klingt jetzt nicht so hochgefährlich. Nicht nach allerübelsten Nebenwirkungen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich bei einer Überdosierung Nierenversagen oder ein Herzversagen riskiere. Wahrscheinlich ist das ohnehin wieder so ein Öko-Zeug, bei dem man auch ganz fest an die Wirkung glauben muss. Obwohl - bei meiner Mutter hatte es ja damals durchschlagenden Erfolg. Ich halte die Flasche in der Hand. Ich kann es auf keinen Fall riskieren, zu wenig zu nehmen. Ich brauche schnellen Erfolg. Leider habe ich den Löffel, mit dem ich die Eierpampe umgerührt hab, auch mit weggeschmissen. Also mache ich kurzen Prozess, öffne die Flasche und kippe mir das Zeug einfach so
auf die Zunge. Es schmeckt so, wie ich mir Spülmaschinensalz vorstelle. Ich spüle drei Mundladungen mit Wasser runter und warte wieder.
Ich warte nicht lange.
Alles geht ziemlich schnell. Und ich muss schnell sein, um rechtzeitig auf dem Klo zu sitzen. Vielleicht liegt es auch an der Eierladung oder daran, dass ich sonst heute irgendwie noch nichts Richtiges gegessen habe. Das Salzwasser schießt offenbar durch meinen Körper, durch alle Schläuche und Organe und reißt alles mit, was es unterwegs findet.
Als ich das erste Mal auf dem Klo sitze, finde ich das sogar noch ganz gut. Ich habe das Gefühl, dass in mir mal so richtig aufgeräumt wird. Der ganze Scheiß muss raus. Im wahrsten Sinne.
Als ich das vierte Mal auf dem Klo sitze, ist meine Euphorie weg. Wahrscheinlich habe ich sie in der Toilette runtergespült. Mein Körper hat offenbar angefangen, sich selber zu verdauen. Es fühlt sich an, als würde das Salz alle meine Organe langsam auflösen. Auffressen. Ich kann schon nicht mehr gerade stehen, schleppe mich gekrümmt vom Bett zum Klo. Dort stinkt es bestialisch, ich selber rieche nach kaltem Schweiß. Ich habe mir schon drei Mal ein frisches T-Shirt angezogen. Es hilft nicht. Irgendwann kommt meine Mutter runter. Wahrscheinlich hat sie sich gewundert, warum hier alle paar Minuten die Spülung rauscht.
»Geht es dir noch schlecht?«, fragt sie besorgt.
Ich antworte nicht darauf. Muss ich auch gar nicht.
»Hast du immer noch Durchfall, du Arme. Soll ich dir noch eine Immodium holen?«
Ich schüttele den Kopf. Wer weiß, was passiert, wenn ich jetzt so einen Durchfallstopper einwerfe. Wahrscheinlich platze ich dann, weil die ganze aufgequirlte Scheiße
nicht raus kann. Oder sie kommt oben raus. Noch fieser.
»Ich glaube, ich kann morgen nicht zur Schule gehen«, sage ich leise.
Sie nickt. »Das glaube ich auch, Süße. Mach dir darüber mal keine Gedanken.«
Die hat gut reden. Ich mache mir seit Stunden um nichts anderes Gedanken. In dieser Nacht wird diese Frage zur Nebensache. So gegen Mitternacht ist es mir egal, ob ich morgen in die Schule muss oder ins Gefängnis oder zu einer Wurzelbehandlung. In mir toben Kriege. Es wird an vielen Fronten gekämpft. Es ist kein Dauerschmerz. Es sind Millionen Schmerzen. Mal sind kleine Pausen dazwischen, in denen ich kurz Luft holen kann. Mal legt sich der Schmerz wie eine Schraubzwinge um meinen Magen und drückt zu, dass mir die Luft wegbleibt. Luise hat angeboten, bei mir zu schlafen. Meine Mutter hat sie sanft zurückgehalten. Sie hat Angst, dass Lu sich ansteckt.
Ich hätte meine Schwester gerne neben mir. Ich würde mich nicht so alleine mit dem Schmerz fühlen. Nicht so ausgeliefert. Zu allem kommt mal wieder die Angst. Mein ständiger Begleiter.
Habe ich vielleicht viel zu viel von diesem Kack-Salz genommen? Kann es durch die zehn rohen Eier in meinem Bauch vielleicht zu einer gefährlichen Vergiftung kommen? Aber ich kann doch jetzt nicht sagen: »Du, Mama, mir geht es so schlecht, weil ich zehn rohe Eier mit einer halben Flasche Glaubersalz geschluckt habe. Hast du vielleicht eine Idee, was man dagegen jetzt machen könnte?«
In der Nacht kommen die ganzen finsteren Gedanken aus ihren Zellen. Ich hatte sie sorgsam eingesperrt. Jetzt kriechen sie aus
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