AnidA - Trilogie (komplett)
und das namenlose Heimweh einer Reisenden, die ihre Heimat nie gekannt hat.
Ich trat unwillkürlich einige Schritte auf den Ursprung dieses Gesanges zu, und er verstummte. Eine dunkle, formlose Gestalt hockte still vor mir auf dem Boden und schien ebenfalls zu lauschen. Ich setzte mich neben Jinqx und blickte hinauf zu dem lockeren Blätterdach, durch das die Sterne blinzelten.
»Hast du das eben auch gehört?«, fragte ich gedämpft, um die Nacht nicht zu stören. Jinqx regte sich nicht, aber ein leises Seufzen klang an mein Ohr. Ich tastete über das geschnitzte Bild in meiner Tasche und stammelte einen armseligen Dank.
Er schnitt mein Gestotter mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und stand auf. Wieder folgte ich ihm, ohne zu protestieren. Er kletterte mit mir weiter hinauf, als ich mich jemals alleine oder in Mellis' Begleitung gewagt hatte. Wir balancierten über kaum armdicke Äste und sprangen halsbrecherisch über dunkle Abgründe, bis wir endlich den höchsten, schwankenden Wipfel des riesigen Baumes erreicht hatten und über uns nichts mehr sahen als den endlosen, bestirnten Himmel und rundherum das weite Blättermeer des Waldes. Jinqx hatte mich fest bei der Hand genommen. Ich folgte ihm in blindem Vertrauen. Überall in den dünnen Zweigen erahnte ich kleine, dunkle Formen: winzige geflochtene Nester, die direkt in den Himmel blickten. Jinqx führte mich an einigen von ihnen vorbei, an denen kleine Büschel von getrockneten Blumen und Kräutern baumelten. Endlich hangelten wir zu einem hinüber, das ohne diese Verzierung war. Jinqx half mir hinein und kletterte nach einer Weile hinterher. Er hatte sich seines Mantels entledigt und deckte ihn nun geschickt halb über das winzige gepolsterte Nest, um den kühlen Nachtwind abzuhalten. Wir kuschelten uns aneinander, denn etwas anderes ließ das enge Lager nicht zu, und blickten hinauf zu den Sternen. Eine leichte Brise bewegte das Meer der Blätter und wiegte uns sacht in unserem schützenden Nest.
»Wolkengondel«, sagte er nach einer langen Weile sanft. Ich begriff, dass das die Bezeichnung der Grennach für diese Nester sein musste, und schmiegte mich noch enger an den seltsamen Mann an meiner Seite. Er hatte seinen Arm um mich gelegt und lag reglos und versunken in den Anblick des Himmels da, die Augen so weit geöffnet, dass sich das schwache Licht der Sterne darin spiegelte. Ich tastete nach seiner groben Hand und schloss meine Finger darum. Er erwiderte den Druck, und seine andere Hand, die um meine Schulter gelegen hatte, strich zart wie ein Taubenflügel über meine Wange. Ich wandte den Kopf und legte meinen Mund an seinen Hals. Seine Hände streichelten über meinen Rücken, und seine Lippen fanden meinen Mund. Meine Hände glitten auf der Suche nach warmem Fleisch unter all die verhüllenden Stoffschichten. Endlich trafen meine Finger auf runde, weich gepolsterte Hüften und einen sanft gewölbten Bauch und glitten daran empor. Ich streichelte eine weiche Brust, und seufzte zufrieden und wortlos unter den süßen Küssen der schwarzen Sturmkrähe, während die Wolkengondel uns auf dem endlosen Baumozean leise in den Schlaf schaukelte.
Beim ersten Zwitschern der Vögel erwachte ich davon, dass einige vorwitzige Sonnenstrahlen sich in das Nest stahlen und mich an der Nase kitzelten, bis ich niesen musste. Ich war allein, was mich nicht wirklich überraschte. Ich gähnte herzhaft und dehnte meine Schultern. Um meine Beine auszustrecken, hätte ich sie erst aus dem Nest hängen müssen. Gähnend setzte ich mich auf und sah um mich. Bei Tage war das endlose Blätterdach, auf das ich rundum blicken konnte, noch beeindruckender, als es in der Nacht gewesen war. Ich hockte mich auf den Nestrand und ließ die Beine in die Luft baumeln. Hatte ich nur geträumt, was in dieser Nacht geschehen war? Nichts erinnerte daran, dass Jinqx wirklich hier bei mir gewesen war, und ich hielt es im hellen Licht des Morgens für durchaus wahrscheinlich, dass ich mir alles nur eingebildet hatte. Ich pflückte das Sträußchen getrockneten Lavendel vom Nestrand, das gestern noch nicht dort gebaumelt hatte, und machte mich vergnügt auf den halsbrecherischen Abstieg. Jetzt bei Licht fand ich ihn gar nicht mehr so schlimm. Er sorgte dafür, dass ich ordentliche Lust auf ein ausführliches Frühstück bekam.
Tante Ylenia erwartete mich bereits. Ich hatte vollkommen vergessen, dass sie mich gebeten hatte, mit ihr das Gedächtnis des Grennach-Volkes aufzusuchen. Ich
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