AnidA - Trilogie (komplett)
große Tante um Haupteslänge zu überragen, und ihre sanftmütigen schwarzen Augen sprühten vor Zorn. Ylenia überraschte mich mit ihrer Reaktion auf die herbe Zurechtweisung. Sie neigte den silberschwarzen Kopf und hob die Hände in einer entschuldigenden Geste.
»Verzeih mir, Nestmutter. Ich sprach aus Sorge um Adina, die mir ans Herz gewachsen ist. Ich wollte niemals die Urteilskraft der Ältesten in Zweifel ziehen.«
»Es ist gut, Nesttochter«, sagte Tallis streng. »Du bist jung und dein Herz ist ungestüm. Ich werde deine Worte vergessen, und auch Tlen-na'Tian hat nicht gehört und seine Augen geschlossen.«
»Danke, Nestälteste«, flüsterte die gescholtene Hexe. Ich starrte mit halb offenem Mund auf die beiden Frauen. Meine Tante, die wahrhaftig eine mächtige und lebenskluge Frau war, wurde abgekanzelt wie ein halbwüchsiges, dummes Schulmädchen und ließ das auch noch brav und widerspruchslos über sich ergehen!
Tallis setzte sich zurück und blinzelte mir zu. Ich schüttelte mich ein wenig und reichte Ylenia die Brosche. Sie dankte mir geistesabwesend und wickelte sie behutsam aus. Das grüne Feuer der geschliffenen Steine schoss durch das Dämmerlicht des kleinen Gemaches und warf blitzende Reflexe auf das runde Gesicht des Grennach. Er blickte die Brosche auf Ylenias Handfläche ebenso konzentriert an, wie er es vorher mit mir getan hatte. Dankbar registrierte ich, dass er keine Anstalten machte, sie anzufassen. Selbst Ylenias sanfte Berührung verursachte mir Beklemmung und das Gefühl, jeder einzelne Nerv in meinem Körper begänne langsam und schmerzhaft zu vibrieren. Just in dem Moment, wo ich glaubte, den ziehenden, zerrenden Schmerz keine Sekunde mehr ertragen zu können, nickte der Tlen-na'Tian, und Ylenia reichte mir die Brosche mit einem besorgten Blick auf mein Gesicht zurück.
»Es wird schlimmer?«, fragte sie. Ich nickte und steckte das Schmuckstück eilig wieder in die Innentasche meiner Jacke, wo es über meinem Herzen ruhen konnte. Mein Atem beruhigte sich, und ich entspannte langsam und bewusst meine verkrampften Muskeln. Ylenia breitete die Hände aus, als wolle sie etwas damit bekräftigen, was sie zuvor gesagt hatte, und sah die beiden Grennach bedeutungsvoll an.
Tallis nickte langsam. »Also gut«, sagte sie beinahe unfreundlich. »Ich werde meine Schwestern darauf vorbereiten. Aber sie werden es uns nicht leicht machen, Ylen. Es wäre vielleicht einfacher, wenn Ida auch hier wäre, aber so ...« Sie schnaubte.
Ylenia sah meinen fragenden Blick. »Wir wollen die Nestältesten dazu bringen, dir das Herz der Erde zu geben«, erklärte sie knapp. »Ich denke, dass du und Ida nicht zufällig im Besitz von drei der vier Herzen seid. Ida hat Ter'garann und Ter'samas auf sehr seltsamen Wegen erhalten. Ich bin sicher, dass das etwas zu bedeuten hat – und dass meine Mutter wusste, worum es dabei ging.« Sie warf wieder einen kurzen Blick auf Tallis, die bestätigend nickte.
Ich schluckte und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. »Und was dann? Was wird sein, wenn ich diese beiden Herzen besitze? Mir macht das eine schon Angst genug.«
Jetzt ergriff Tallis das Wort. »Deine Großmutter war der Überzeugung, dass Ida und du die vorhergesagten Schwestern im Spiegel seid; die, die ›finden, was verborgen war, öffnen, was verschlossen war‹ «, zitierte sie die ominöse Prophezeiung. Sie mied Ylenias bohrenden Blick und fuhr fort: »Elaina, deine Großmutter, ist zufällig bei einer Suche in der Überwelt auf das Herz des Wassers gestoßen, das nun in deinem Besitz ist. Als dann einige Zeit später ihr Zwillingsschwestern auf die Welt kamt, begriff sie, was das zu bedeuten hatte. Ihr werdet das Herz der Welt wiederfinden und damit die verlorene Harmonie, die sonst unabweichlich unsere Welt zerstören wird, wiederherstellen.« Sie schwieg und stellte sich mit einem erschöpften Lächeln Ylenias verletzter Miene.
»Du hast es gewusst und hast mich dennoch danach forschen lassen«, sagte die Hexe vorwurfsvoll. »Warum ließest du mich im Dunkeln tappen, Tallis?«
Die Grennach schwieg. Dann seufzte sie schwer und faltete wieder die Hände. »Es war besser, es dich selbst erkennen zu lassen«, sagte sie leise. »Deine Mutter – du weißt, dass ich sie liebte, Ylen –, sie neigte manchmal zu Gedankengängen, denen selbst ich nicht so ohne weiteres folgen konnte. Ich habe ihr in vielem blind vertrauen müssen. Doch ich denke, mit ihrer Deutung der Prophezeiung hatte sie Recht.
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