AnidA - Trilogie (komplett)
irgendwoher ein schurkischer Magier aufgetaucht wäre, um sie ihnen zu stehlen. Warum also sollte das mir geschehen? Und ebenso haben die Herzen in all den Jahren keinen Schaden angerichtet, nur weil sie existierten.«
Der Heiler schwieg. »Es sind andere Zeiten«, antwortete er schließlich ohne große Überzeugung.
Anna schnaubte und streckte die Beine aus. »Warum hast du mir meine Erinnerung überhaupt zurückgegeben, wenn du doch nur versuchst, euer Tun zu rechtfertigen? Damit ich dir bestätige, dass alles gut und recht war, was ihr mir angetan habt?«
Der Heiler zuckte zurück, als hätte sie ihn geschlagen. »Du musst mir vergeben«, sagte er nach einer Weile, in der es in seinem zerfurchten Gesicht heftig gearbeitet hatte. »Indem ich hier mit dir so offen über alles rede, handle ich schon den Weisungen unserer Obersten entgegen. Ich bin ein alter Mann, ich habe mich nie gegen etwas auflehnen müssen, was eine Oberste Hexe anordnet – einfach, weil ich immer der Meinung war, dass diese Anordnungen richtig und gut im Sinne des Ordens und seiner Mitglieder sind. Aber jetzt und hier ...«
Anna legte die Hand auf seinen Arm. »Es tut mir Leid, dass ich gerade dich dafür beschimpfe, der du doch der Einzige bist, der sich wirklich um mich kümmert – und nicht nur um die Herzen und ihre Macht.«
Sie saßen eine ganze Weile schweigend nebeneinander. Das Laub der Obstbäume und der Sträucher im Küchengarten bewegte sich leise im sanften Wind, und im Gebüsch raschelte ein kleines Tier auf der Suche nach Nahrung. In der Ferne krähte ein Hahn, und aus der Küche drang gedämpft das Scheppern und Klappern der Töpfe und Pfannen.
»Nun gut«, seufzte der Heiler nach einer Weile. »Ich muss gestehen, ich bin ratlos. Eigentlich wäre ich nun gehalten, dir deine Erinnerung wieder zu nehmen, aber ...« Er hob die Hand, um Annas Protest zu ersticken. »Das werde ich nicht tun«, sagte er entschieden. »Doch ich bitte dich sehr, niemanden merken zu lassen, was ich getan habe. Nicht, bevor wir nicht wissen, was weiter zu tun ist. Ich werde darüber nachdenken müssen. Wahrscheinlich muss ich Herrad von dem unterrichten, was ich getan habe – aber noch soll es unser Geheimnis bleiben. Versprichst du mir das?«
»Ich werde mir der Obersten Hexe gegenüber nichts anmerken lassen, das verspreche ich dir«, erwiderte Anna ausweichend.
Meister Wilber musterte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen, aber dann lächelte er und gab ihr einen Klaps auf die Hand. »Du wirst vorsichtig sein, das weiß ich. Lass mich eine Weile über alles nachdenken. Dann sehen wir weiter.« Er erhob sich und klopfte ein paar trockene Zweiglein und Blättchen von seiner Tunika. »Heute solltest du dich noch erholen. Aber ich würde es begrüßen, dich morgen wieder beim Unterricht zu sehen, wenn du dich kräftig genug dafür fühlst.«
Anna nickte nur und blieb noch eine Weile in der Laube sitzen. Vorsichtig, wie man einen schmerzenden Zahn mit der Zungenspitze berührt, erforschte sie ihre wiedergewonnene Erinnerung, freute sich daran, das Bild ihrer Großmutter klar vor Augen zu haben, und ließ die Wut über das ihr Angetane langsam verebben.
Ihre Gedanken und Empfindungen wanderten tiefer in Schichten ihres Wesens, die ihr selbst beinahe fremd erschienen – und dort, in der Mitte ihres Seins, glühte der schwere, machtvolle Kern, der zwar mit ihr verbunden, aber dennoch nicht ganz sie selbst war.
Sie glitt tiefer in Trance und umkreiste diesen fremdvertrauten Bereich mit großer Vorsicht. Er war gleichzeitig innerhalb ihres Selbst und irgendwo außerhalb – etwas wie eine haardünne Schnur ging von ihm aus und verschwand in nebelhafter Ferne. Mit geistigen Fingern tastete sie nach dieser seltsamen Verbindung, die straff gespannt unter ihrem Zupfen zu vibrieren begann wie die Saite einer Harfe, und die Energie, die durch diese Verbindung floss, prickelte in ihrem Geist. Ein leiser Ton erklang, glockenrein und süß, der ihr die Tränen in die Augen trieb.
Der Ton verklang im selben Moment, in dem sie die Augen aufschlug, aber sie vermeinte, sein Echo tief in sich immer noch schwingen zu hören.
Mit den wiedergekehrten Erinnerungen hatte auch ihre Kraft zugenommen und die so überaus dämpfende Mattigkeit ein wenig vertrieben. Annas Magen hatte den Napf Suppe, den sie am Morgen zu sich genommen hatte, längst vergessen. Er knurrte nun geradezu bösartig und veranlasste sie, ihre Schritte erneut zum Küchentrakt zu wenden. Dort
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