AnidA - Trilogie (komplett)
Anwesenheit des Mädchens vergessen zu haben. »War dort drüben die Grenze?«, wagte Ida schließlich zu fragen.
Dorkas antwortete nicht, aber Mellis wandte sich ein wenig überrascht zu ihr um. »Ja, hast du sie nicht gesehen?«
»Wen gesehen?«, fragte Ida genauso überrascht zurück.
Mellis blinzelte verwirrt. Ihre seltsam geschlitzten Pupillen verengten sich zu einem winzigen Spalt und weiteten sich dann voller Erheiterung. »Verzeih, Ida, ich habe ganz vergessen, wie es wirkt, wenn man zum ersten Mal davorsteht. Du erinnerst dich an die Nebelbank, an der ihr auf mich gewartet habt?« Ida starrte sie an, ohne zu antworten. Wollte diese seltsame kleine Frau sie auf den Arm nehmen?
Mellis gluckste leise und berührte mit einem ihrer spitzen Finger Idas Arm. »Noch einmal Verzeihung, Kind. Ich habe zu viel Zeit mit den Männchen meines Nestes verbracht. Ihre kindliche Art zu kommunizieren hat anscheinend auf mich abgefärbt. Natürlich erinnerst du dich an die Nebelbank. Nun, sie war die Grenze.«
»Ach«, sagte Ida ungläubig.
Dorkas wandte sich um und legte warnend einen Finger auf die Lippen. Sie ritten in schnellem Tempo schweigend und aufmerksam weiter. Ida musste ein Kichern unterdrücken, als sie sah, wie die Grennach buchstäblich ihre Ohren spitzte. Mit jedem Meter, den sie hinter sich brachten, brach der Nebel weiter auf. Und dann, so plötzlich, als zöge jemand einen Vorhang beiseite, ritten sie durch die letzten zarten, dahintreibenden Fetzen hindurch und fanden sich inmitten sonnenbeschienener Wiesen wieder.
In der Abenddämmerung erreichten sie das Ufer des Weidenflusses. Dorkas begann wortlos ein Lager aufzuschlagen, während Mellis die Tiere versorgte und Ida Holz für ein Feuer sammelte. Wenig später saßen sie zusammen, während über dem kleinen Feuer der Wasserkessel summte. Dorkas goss Tee auf, und sie wärmten ihre Finger an den heißen Bechern.
»Du hast dich gut gehalten, Kleines«, sagte Dorkas. Ida wurde rot. Die Gildenfrau war sparsam mit Lob, deshalb freute das Mädchen sich um so mehr darüber.
Dorkas reckte sich und gähnte herzhaft. Sie legte sich zurück und zog die Decke über ihr Gesicht.
»Diese Nebelwand – wieso ist das die Grenze?«, fragte Ida.
Mellis kämmte mit den krallenähnlichen Fingernägeln durch ihren buschigen Schweif und machte sich daran, die Kletten herauszuklauben, die sich in den Haaren verfangen hatten. »Seit dem Krieg gegen den Schwarzen Orden markiert diese Nebelwand die Grenze zu der verlorenen Provinz«, erklärte sie beiläufig. »Zu manchen Zeiten ist sie zwar undurchsichtig, aber durchlässig. Dann wieder kann kein Lebewesen sie passieren. Niemand weiß, womit das zusammenhängt. Man hatte erwartet, dass mit dem Erlöschen des Schwarzen Ordens auch die Nebelwand wieder verschwinden würde, aber das war nicht der Fall. Es muss ein sehr mächtiger alter Zauber sein, der sie dort hält. Die Weiße Schwesternschaft beschäftigt sich schon seit Generationen damit, ohne der Lösung näher zu kommen.«
Sie blickte auf und lächelte Ida mit ihren spitzen weißen Zähnen an. »Allerdings ist es meinem Volk gelungen, einen der alten Talismane nachzubilden, mit dem ein solcher Zauber beschworen werden kann.« Sie nestelte den Anhänger hervor, der um ihren schmalen Hals hing, und hielt ihn Ida entgegen. Ida nahm ihn vorsichtig in die Hand und betrachtete ihn. Er ähnelte dem Schmuckstück, das Tante Ylenia gehörte, nur, dass dieser Anhänger hier mit geschliffenen Steinen in Blautönen von unterschiedlicher Intensität besetzt war. Sie erwähnte ihre Beobachtung, und Mellis nickte.
»Es ist die Nachbildung eines der verloren gegangenen Herzen«, sagte sie und stocherte mit einem Ast in der langsam verglimmenden Glut des Feuers. »Es gab einmal fünf von ihnen und eines, das es niemals hätte geben dürfen.« Sie wickelte sich in ihre Decke. »Soll ich dir die Geschichte erzählen, wie unsere Männchen sie den Kindern im Nest erzählen?« Mellis beugte sich ein wenig vor. Ihre leise Stimme wurde noch dunkler und gedämpfter, während die Nacht herniedersank und das leise Rauschen des Flusses ihre Worte untermalte.
»Einst, als sie noch über den Rücken der Welt schritten, schufen die Baumwesen das Volk der Kletterer«, hob sie geheimnisvoll raunend an. »Die Kletterer lebten auf ihren mächtigen Schultern, und sie vermehrten sich und priesen die Baumwesen, die sie geschaffen hatten. Doch dann drangen Fremde in die Berge ein und begannen damit,
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