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Animal Tropical

Animal Tropical

Titel: Animal Tropical Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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Anstellung, weil die Betriebe für Feuerlöscher geschlossen wurden. Da begann sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Manchmal kaufte ich ihr Rind- oder Pferdefleisch ab. Aber sie haute mich übers Ohr. Immer fehlte ein halbes Kilo. Ich tat so, als wäre nichts, und ging darüber hinweg. Da wir Sex miteinander hatten, wollte ich mich doch nicht lächerlich machen, indem ich mich mit ihr über ein Stückchen Fleisch mehr oder weniger stritt. Doch eines Tages betrog sie mich um vier Kilo. Das war zu viel. Ich verlor die Geduld, und wir hatten einen großen Streit. Wir beschimpften uns gegenseitig. Das war’s dann. Wir sind jetzt weder Freunde noch sonst etwas. Wir fingen schlimm an und endeten noch schlimmer.
    So ist das. Das Leben ist viel komplexer als die Literatur. Aber auch weniger intensiv. Die Literatur muss mit übermäßiger Geschwindigkeit vorangehen, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Andernfalls wäre es eine schläfrige, langweilige Reise. Man wählt Fragmente aus, schreibt und versucht, nicht zu langweilen. Letztlich ist der einzige Wegweiser, den ich habe, die Intuition. Ein wenig Intuition. Und das ist ziemlich wenig.

24
    Den ganzen Morgen über las ich. Agneta sah sich eine Mietwohnung in der Nähe an. Ähnlich dieser hier, aber billiger. Gegen elf Uhr war ich steif und musste die Muskeln bewegen. Ich lief ein bisschen durch den Wald. Als ich zurückkam, war sie wieder da und bereitete das Mittagessen zu. Ich duschte, machte mir eine Dose Bier auf, legte Stabat Mater von Pergolesi ein und ging in die Küche, um zu helfen. Es gab nichts zu tun. Das Mittagessen bestand aus Salat, Käse, Brot und Räucherlachs.
    »Du hast noch kein Wort über die Wohnung gesagt. Hast du sie dir angesehen?«
    »Hmmm …«
    »Sehr schlimm? Schmutzig?«
    »Nein. Sie wäre perfekt. Billiger als diese hier, geräumiger, aber … unmöglich.«
    »Warum?«
    »Die Frau, die dort wohnte, hat sich vor drei Tagen das Leben genommen. Die Schwester zeigte mir die Wohnung, als wäre nichts geschehen.«
    »Logisch. Wenn sie einen potenziellen Mieter abschreckt …«
    »Das ist es nicht. Es war alles noch genau so, wie sie es hinterlassen hatte: das Geschirr und die Gläser abgewaschen auf dem Trockenständer. Die Rechnungen und Bons ordentlich zusammengeheftet auf dem Tisch. Das Bett gemacht. Seife und Zahnpasta halb verbraucht im Bad. Alles an seinem Platz, als wollte die Frau jeden Moment zurückkommen. Heute ist Freitag. Am Dienstag war die Frau morgens aufgestanden, hatte gefrühstückt, alles ganz pingelig aufgeräumt, war zu Fuß zu den Zuggleisen gegangen und hatte sich von der zweiten Brücke hinuntergestürzt.«
    »Die Brücke beeindruckt mich immer wieder. Sie ist so hoch.«
    »Offenbar tat sie alles ganz kaltblütig. Hatte jeden Schritt berechnet, als ginge sie einen Kühlschrank kaufen. Und die Schwester war völlig ruhig. Am Mittwoch beerdigte sie sie, und eine Stunde später hängte sie das Schild ›Wohnung zu vermieten‹ auf den Balkon.«
    »Sehr rational. Gut so. Doch wenn sie dir gefällt, komme ich gerne mit und helfe dir, dich zu entscheiden.«
    »Für nichts in der Welt. Nicht einmal geschenkt würde ich sie nehmen.«
    »In Kuba würde das niemand tun. Aber wir sind auch sehr emotional, sehr abergläubisch. Die Schweden hingegen …«
    »Ach, hör auf, die Dinge so zu vereinfachen, Pedro Juan.«
    »Im Grunde, glaube ich, ist es überall dasselbe. Leute, die gewaltsam sterben, irren ruhelos umher. Sie sind dunkle Geister, die kein Licht haben, um aufzusteigen.«
    »Der Geist irrt ruhelos umher?«
    »Das sagen die Santeras und Spiritisten.«
    »Das war’s, was ich gespürt habe. Genau das.«
    »Wirklich?«
    »Als ich die Wohnung betrat, spürte ich etwas Merkwürdiges, etwas Unangenehmes. Mir war unbehaglich zumute. Ich fühlte mich ein bisschen deprimiert, melancholisch, ich weiß nicht, wie ich sagen soll. Wir sahen uns die Räume an, und diese Frau erzählte mir dabei seelenruhig, als spreche sie von einer ihr Unbekannten, von dem Selbstmord am vergangenen Dienstag. Daraufhin empfand ich eine noch stärkere Beklemmung.«
    »Und hast eilig das Weite gesucht.«
    »Sobald ich wieder auf der Straße war, ging mein Atem anders, und alles war gut.«
    Im Hintergrund lief immer noch das Stabat Mater. Gerade erklang der letzte Satz: Quando Corpus Moriet. Sofort nahm ich die Platte ab und legte stattdessen eine von Pablito F. G. mit erotischem Salsa-Gesang auf.
    Wir setzten unser Mittagessen fort. Sie trank Tonicwater.

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