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Animal Tropical

Animal Tropical

Titel: Animal Tropical Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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hundert.«
    Agneta kam um sechs zurück. Sie machte sich einen Teller Müsli mit Sauermilch und ernährte sich gesund in der Sonne auf dem Balkon. Ich las noch ein bisschen weiter, aber ich kann erzwungene Untätigkeit nicht ertragen. Es gelang mir, sie murrend zu einem nahe gelegenen Kanal zu schleifen, gegenüber von einem Schloss. Dort finden Ruderregatten auf Wikingerbooten statt. Ein kleiner, dreitägiger Karneval als Vorgeschmack auf den Mittsommer. Die Mannschaften verkleiden sich. Am komischsten waren ein paar Parodien auf Clinton und Lewinsky. Sie ruderten hart und kamen ins Finale. Andere Teams hatten sich als Cowboys, Wikinger, Babys, Elvis Presley verkleidet. Schließlich hatte ich Durst.
    »Trinken wir ein Bier? Komm.«
    »O nein, nein. Es ist so windig.«
    »Ja und? Ein Bierchen …«
    »Nein, nein. Mein Hals.«
    In Wahrheit ist das Problem nicht ihr Hals, sondern dass da ein paar Männer schon ein bisschen angeheitert sind und Bier zechen. Betrunkene widern sie an. Alkohol ist ihr zuwider. Ich war drauf und dran, ihr zu sagen: »Na, dann geh du zurück in dein trautes Heim, ich bleibe.« Aber ich hielt mich zurück. Besser keine Krise auslösen. Immerhin gibt sie sich Mühe, meine barbarische Art zu ertragen. Eilig traten wir den Rückweg an. Mir war klar, dass sie vor der Menge floh, vor potenziellen Betrunkenen. Vielleicht wollte sie sogar vor mir fliehen. Ich halte sie ein wenig am Arm zurück.
    »Agneta, wovor läufst du weg? Warum hast du es so eilig?«
    »Ich gehe immer so.«
    Sie sah mich an, und es kam mir vor, als sei sie etwas erschrocken. Ich atmete tief durch. Geduld, Pedro Juan, Geduld. Wer weiß, was für traumatische Erfahrungen sie mit Betrunkenen und Menschenmengen hat.
    »Heute haben wir Die Simpsons verpasst.«
    »Nein, ich habe den Videorekorder programmiert.«
    »Ah, die skandinavische Effizienz. Wie schön.«
    Vor der Aufzeichnung der Simpsons sahen wir uns die Nachrichten an. Tote im Kosovo. In den letzten Tagen tauchen zig-hunderte von Toten auf. Man begräbt sie. Agneta hält sich jedes Mal die Augen zu, wenn die fahlen oder ein wenig violettblauen Gesichter der Leichen gezeigt werden. Angezogene, normale Leute wie jeder x-Beliebige von uns, denen sie plötzlich die Leber durchschießen und die dann sterben. Und dann begräbt man sie und weiß nicht einmal ihre Namen. In Massengräbern. Sie sind schon halb verwest und riechen schlecht. Immer macht Agneta eine Geste der Angst oder des Entsetzens oder des Ekels und wendet den Blick ab.
    »Macht dir das Angst?«
    »Ja.«
    Sie lehnt sich an mich. Senkt den Kopf auf meine Schulter. Der Tod entsetzt sie. Danach kommt die Wettervorhersage. Bewölkt. Fünfundzwanzig Prozent Regenwahrscheinlichkeit fürs Wochenende. Sinkende Temperaturen und Windböen. Maximal 18 Grad.
    »Oh, ich würde gern ein bisschen mit dir im Wald spazieren gehen. Ich habe eine Freundin, die hat Pferde …«
    »Immer dasselbe. Am Wochenende verpisst sich der schwedische Sommer.«
    »Ich würde gern mit dir ausreiten. Magst du Pferde?«
    »Stuten mag ich lieber, hahaha.«
    »Wie bitte? Warum Stuten?«
    Nie kapiert sie meine Witze. Sie lehnt sich an meine Schulter und schließt die Augen. Ich streichele sie und sage ihr etwas Liebes. Sie ist eine einsame Frau. Zu viel allein, zu viel Zeit, in der sie an den Tod denkt und wie die Tage vergehen, in der sie sich von Sauermilch mit Müsli ernährt, sehr dramatische Opern hört, jede Krone spart und denkt, sie sei völlig überflüssig und eine beschissene kleine Angestellte und würde nie genug Geld für ihr Alter haben. Nie gönnt sie sich ein kleines Vergnügen. Agneta lebt vorsichtig. Sie ist davon überzeugt, dass schon der geringste Fehltritt tödlich sein kann.
    So kann man unmöglich leben. Ich streichele sie gern. Wenn ich ihr etwas Zärtliches sage, bekommt sie ein anderes Gesicht. Oder wenn ich ihr den Schwanz reinstecke. Ich stecke ihn ihr ganz sachte rein. Nach und nach. Streichele sie dabei. Und verändere ihr Gesicht. Sie entspannt sich. Wird wieder jünger. Meine Zärtlichkeiten verjüngen sie um zwanzig Jahre. Beiläufig frage ich sie:
    »Du wirst doch nicht schwanger sein, Schätzchen?«
    »Oh, zwei Seelen, ein Gedanke.«
    »Ja? Wurde auch Zeit.«
    »Wofür?«
    »Für Telepathie.«
    »Glaubst du an so etwas?«
    »Natürlich. Das passiert mir immer mit den Frauen, die mit mir leben.«
    »Ohhh.«
    »Antworte mir.«
    »Wie bitte?«
    »Bist du schwanger?«
    »Nein, nein, nein. Ich bitte dich.«
    »Willst du

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