Animus
ehrerbietig und leise sein während dieser drei Tage. Die Körper wurden früher verbrannt, inzwischen gibt es aber auch Erdbestattungen. In den drei Tagen wird gesungen und gebetet, natürlich ist die Totenklage reine Weibersache. Hör zu, ein Auszug aus der Klage um die Mutter.«
Sie schloss die Augen, versuchte sich offenbar an die Stimme ihrer Großmutter zu erinnern: »O Mütterchen, Kirschlein, o mein Mütterchen, du Wandrerin. O, mein Mütterchen baut eine Heimat aus weißen Brettlein, ohne Glas die Fensterchen, ohne Tür. Du wirst die aufgehende Sonne nicht sehen und nicht ihren Untergang. Wer wird jetzt so lieb mit mir sprechen, wer so lieb mich belehren? Mütterchen, wer wird mich schützen, wenn ich klage? Der Waldkuckuck wird aufhören zu rufen, aber ich werde nie aufhören zu rufen.«
Sie öffnete die Augen wieder und machte eine Pause.
Ich war bewegt von der einfachen Schönheit dieser Sätze, von der Liebe, die sie ausdrückten.
Sie sprach weiter: »Bei den Totenklagen werden alle guten Taten der Verstorbenen gepriesen. Das würde bei mir relativ schnell gehen. Man bittet die Toten, die Familie weiterhin zu besuchen, um sie zu beschützen. Tatsächlich besucht eine verstorbene Litauerin ihre Familie auch regelmäßig, und zwar in den Ferien. Süß, nicht wahr? Deshalb wird zu Beginn der Ferien immer das ganze Haus geputzt, denn die Toten sollen es hübsch haben. Wenn man sie nicht respektvoll behandelt, sind sie nämlich in der Lage, immenses Unheil über die Familie zu bringen – wie beispielsweise Unfruchtbarkeit. An Weihnachten kommen die Geister übrigens auch zu Besuch. Deswegen gehen Litauer an Weihnachten nie sehr weit weg von ihrem Haus. Sie haben Angst, feindlichen Geistern zu begegnen. Apropos Weihnachten! Am Heiligabend wurde bei uns immer der Tisch mit Heu bedeckt. Nach dem fleischlosen Essen, zu dem auch Nachbarn geladen wurden, zog jeder unter der Tischdecke einen Heustängel hervor, um die Zukunft vorherzusagen. Ein langer Stiel bedeutete langes Leben, ein ganz kurzer besagte, dass diese Person nächstes Jahr nicht mehr mit am Tisch sitzen würde.«
»Interessante Methode«, fand ich. »Aber die Fehlerquote muss ziemlich hoch gewesen sein, oder?«
»Sei nicht so schrecklich statistisch, Lucy, hier geht es um Spiritualität!«, tadelte sie mich. »Doch zurück zu den Beerdigungen. Die folgende Geschichte wird dir besser gefallen: Ganz früher, wenn ein Mann gestorben war, vorzugsweise ein wohlhabender Mann, dann wurde all seine Habe vom Haus weg Richtung Feuerbestattungsstelle in mehreren kleinen Haufen ins Freie gelegt, und zwar in größeren Abständen voneinander. Der größte und wertvollste Haufen befand sich vor seinem Haus. Wenn der Kerl nun eingeäschert war, dann stürzten sich alle Männer auf ihre Pferde und galoppierten zu seinem Haus. Wer zuerst an einem Haufen angelangt war, durfte die Sachen behalten. Deswegen waren schnelle Pferde bei litauischen Beerdigungen früher sehr beliebt.«
»Hübsch«, kommentierte ich trocken. »Aber wir sollten trotzdem nicht so viel von Beerdigungen reden. Mir ist eh schon reichlich düster zumute.«
Sie nickte und goss noch zwei Wodka ein.
28. Wahnsinn mit Methode
Pete, 36, Geheimagent
Ich drückte auf den in Messing eingefassten Klingelknopf und lauschte den angenehm weichen Glockentönen. Als ich Schritte von drinnen hörte, erinnerte ich mich an die Konvention, Blumensträuße für die Hausherrin uneingewickelt zu übergeben, und machte mich schnell daran, die blassgelben Rosen aus dem Papier zu schälen. Es war Snyder, der öffnete, doch als ich ungeschickt versuchte, mich mit den Blumen in der Hand von Mantel, Schal und Handschuhen zu befreien, trat auch die Gattin meines Chefs in den Hausflur, um mich zu begrüßen. Sie nahm mir dankend den Rosenstrauß aus der Hand, gab ihn ans Personal weiter und bat mich herein. Anerkennend schaute ich mich in dem geräumigen Haus um und versuchte, die Gehaltsklasse des Secret-Service-Chefs einzuschätzen. Der wenig zurückhaltend präsentierte Prunk, der sich schon hier im Flur in Form von Louis-seize-Antiquitäten, einem bombastischen Kristalllüster an der Decke, Perserteppichen und wertvollen Gemälden in goldüberzogenen Rahmen dem geblendeten Auge des Betrachters zeigte, ließ auf ein Gehalt schließen, das mein – auch nicht gerade bescheidenes – Einkommen um mindestens eine Viertelmillion überstieg.
»Sie haben einen erlesenen Geschmack«, schmeichelte ich der Gastgeberin,
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