Animus
überspannten Kreisen überhaupt genehm waren, oder mit Büchern oder Alkohol. Als das Telefon mich in jener Nacht so gegen drei Uhr aus dem Schlaf klingelte, dachte ich zuerst, Oreste gäbe mir die Ehre – ein absurder Gedanke, denn er meldete sich so gut wie nie bei mir. Es sei denn, irgendein Kritiker hatte sein Konzert verrissen, und er wollte mir die Ohren volljammern.«
Ich zündete mir die nächste Zigarette an. Das war schlimmer, als ich vermutet hatte. Lucy war eine verdammt kluge Frau. Sie hatte sich mit ihrer Aussage bewusst ins Unglück gestürzt. Ich las weiter.
»Als sich herausstellte, dass der Anrufer ein alter Bekannter von mir war, von dem ich seit Jahren nichts mehr gehört hatte, war ich sehr überrascht. Und neugierig. Er kam ziemlich bald auf den Punkt, war wohl durch den Genuss von Alkohol stark enthemmt und machte mir dieses Angebot: zehntausend, wenn ich mit ihm schlafe. Das sind Dimensionen, die nicht zu verachten sind, selbst wenn man mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde wie ich. Dennoch: Ich musste schrecklich lachen. Schließlich besaß ich genug Geld. Noch mehr Geld ist zwar nicht unangenehm, war aber noch nie ein besonderer Kick für mich. Übrigens, darf ich rauchen?«
An dieser Stelle vermerkte der Gerichtsschreiber, dass die Angeklagte lachte und vom Vorsitzenden ermahnt wurde.
»Dann halt nicht. Als er merkte, dass das Sujet mich genauso kaltließ wie die Bezahlung, bot er mir zweitausend dafür, dass er meine Füße küssen dürfe. Ist das nicht amüsant? Sie müssen verstehen, ich hatte nicht viel Abwechslung in diesen Tagen … Als er zum zweiten Mal anrief, es war vielleicht eine Woche später, ging ich auf das Spiel ein. Er war auf fünftausend hochgegangen und hatte mir versprochen, mich nicht anzufassen. Nur Füße küssen. Fünftausend für ein paar verächtliche Blicke von mir, für eine Erniedrigung. Fünftausend, um vor mir auf dem Boden herumzukriechen! Ich zog die passende Kleidung für dieses delikate Unterfangen an und fuhr hin. So hat es begonnen. Von da an rief er mich in unregelmäßigen Abständen an, bot mir viel Geld. Es geilte ihn auf, Frauen zu kaufen, die es nicht nötig haben, Frauen der Gesellschaft, ebendie, die man gemeinhin als ehrbar bezeichnet. Nutten interessierten ihn nicht. Dabei hätten die ihn sicher viel professioneller bedient und weitaus effektiver erniedrigt, als ich es mit meiner recht beschränkten Phantasie konnte. Aber genau das reizte ihn. Er wollte sich immer wieder beweisen, dass alle Frauen käuflich sind. Im Grunde eben doch nur Nutten. Nun ja, wir spielten gelegentlich dieses Spiel, ich betrank mich jedes Mal. Vielleicht weil es mich nüchtern angeekelt hätte? Nein. Eher weil ich sonst hätte lachen müssen und aus meiner Rolle herausgefallen wäre. Sie fragen sich, warum ich es überhaupt getan habe? Das habe ich mich auch gefragt. Irgendetwas muss mich fasziniert haben, und das war keinesfalls der Part der Domina, wenn ich Ihnen diesen kleinen Einblick in meine sexuellen Präferenzen zumuten darf. Ihn fand ich nicht aufregend, seine lächerliche Demut noch weniger. Aber diese Schamlosigkeit, mit der er seine Phantasien auslebte … Ich vermute, es war das prinzipiell Obszöne an der Situation, das mich reizte. Ich habe mir übrigens ein paarmal überlegt, ob ich Oreste davon erzählen sollte. Vielleicht hätte ihn das zumindest kurzfristig aus seinen Partituren gerüttelt. Aber wahrscheinlich habe ich mich zu sehr geschämt, vielleicht war es mir auch zu riskant. Jedenfalls begann mir das Spiel zu entgleiten. Das Amüsante wie auch meine ironische Distanz zu dem Geschehen kamen mir abhanden, ich fühlte mich einfach nur noch … billig. Nicht preiswert, beileibe nicht … Ich hoffe sehr, Sie verstehen den Unterschied, meine Damen und Herren Geschworenen, auch wenn er für Ihre Urteilsfindung wohl kaum von Belang sein wird.«
Ich konnte mir Lucys spöttisches Lächeln bei ihrem Vortrag sehr gut vorstellen. Die Jury hatte ihre zur Schau gestellte Kälte garantiert von der ersten Sekunde an gehasst.
»Und hinterher, im ernüchterten Zustand, war ich angewidert von mir selbst und meiner Niedrigkeit. Verstehen Sie mich nicht falsch, das hatte nichts mit Reue zu tun. Nur mit Klarsicht. Ich erniedrigte mich selbst dabei schließlich am meisten. Dafür begann ich ihn zu bestrafen, statt einfach damit aufzuhören. Ich wurde immer heftiger, aus Wut auf mich selbst. Irgendwann fing er an zu winseln, ich meine, echt zu
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