Anita Blake 10 - Ruf des Bluts
Niley. Der andere war mindestens eins achtzig groß und musste an die hundertfünfzig Kilo wiegen. Er wirkte massig, aber nicht fett, hatte schwarze Haare und eine Stirnglatze, die er nicht zu kaschieren versuchte. Er hatte das übrige Haar sogar so kurz geschnitten, dass die Glatze betont wurde. Das Gesicht wirkte zu klein für die breiten Schultern.
Der dunkle Nadelstreifenanzug saß glatt und teuer über dem weißen Hemd. Er trug eine Weste, aber keine Krawatte. Der geöffnete Kragen ließ eine Locke grauer Brustbehaarung sehen. Er lächelte uns entgegen, als wir zwischen den Tischen mit Touristen und lärmenden Kindern durchgingen.
Es war der freundlich nichtssagende Blick einer erfreuten Schlange. Mit seiner großen Hand winkte er uns heran. An jedem dicken Finger glänzte ein goldener Ring. »Ms Blake, schön, dass Sie kommen.« Er stand nicht vor mir auf, sodass ich mich fragte, was er im Schoß liegen hatte. Vielleicht eine abgesägte Schrotflinte. Oder seine gepflegte Ausdrucksweise war affektiertes Gehabe, und er wusste nicht, welche Gesten dazugehörten. Oder er hielt mich nicht für eine Dame. Durchaus möglich.
Shang-Da bewegte sich zu der Seite, wo er Hart vor sich hatte. Ich konzentrierte mich auf Niley und den jungen Mann.
Er wirkte wohlwollend, als hätte er eigentlich an einem der anderen Tische sitzen müssen, wo normale Leute saßen und normale Dinge taten.
Niley streckte mir die Hand hin. Ich nahm sie. Sein Händedruck war knapp und kaum als solcher zu bezeichnen. »Das ist Howard.«
Howard bot mir nicht die Hand, weshalb ich meine ausstreckte. Seine großen braunen Augen wurden noch ein bisschen größer, und ich merkte, dass er Angst vor mir hatte. Interessant.
»Howard schüttelt keinem die Hand«, erklärte Niley. »Er ist ein ziemlich überzeugender Hellseher. Ich bin sicher, Sie verstehen das.« Ich nickte. »Ich bin noch keinem guten Hellseher begegnet, der bereitwillig einen Fremden berührt. Sie würden zu viel Unerfreuliches aufschnappen.«
Niley nickte, sodass sein kleiner Kopf auf den breiten Schultern hüpfte. »Ganz recht, Ms Blake, ganz recht.«
Ich setzte mich. Richard glitt auf den Stuhl neben mir. Nileys Blick wanderte zu Richard. »Nun, Mr Zeeman, endlich lernen wir uns kennen.« Richard sah ihn durch die dunklen Gläser an. »Warum haben Sie sie umgebracht?«
Bei dieser Plötzlichkeit zuckte sogar ich zusammen. Er musste es mir angemerkt haben, denn er sagte: »Ich bin nicht gekommen, um Floskeln auszutauschen.« »Ich auch nicht«, antwortete Niley. »Wenn Sie mich zum Waschraum begleiten wollen, werde ich Sie auf Abhörgeräte untersuchen. Milo wird Ihren Leibwächter abtasten.« »Shang-Da«, sagte Richard. »Sein Name ist Shang-Da.« Niley lächelte noch breiter. Noch ein bisschen mehr, und sein Gesicht würde in zwei Hälften zerfallen.
»Natürlich.« »Und wer wird mich abtasten?«, fragte ich. »Howard?«
Niley schüttelte den Kopf. »Mein anderer Mitarbeiter verspätet sich ein wenig.« Er stand auf, und auf seinem Schoß war nichts. Paranoia. »Wollen wir, Mr Zeeman ? Darf ich Sie Richard nennen?«
»Nein«, antwortete er mit tiefer, leiser Stimme, als wollte er gerne noch mehr sagen.
Ich berührte ihn am Arm, als er vom Stuhl aufstand. Dabei sah ich zu ihm hoch und ermahnte ihn stumm, nichts Dummes zu tun.
Niley hakte sich bei Richard unter, als wären sie ein Paar. Er tätschelte Richards Oberarm. »Meine Güte, was sind Sie für ein stattlicher Bursche.«
Richard wandte mir noch einmal den Kopf zu, als Niley ihn wegführte. Ich hätte viel gegeben, um seine Augen sehen zu können. Gewöhnlich war ich es, an die sich die Schurken heranmachten.
Shang-Da ließ Hart hinter dem Tisch hervorkommen. Sie gingen zusammen weg, ohne sich zu berühren. Die Spannung zwischen ihnen war zum Schneiden.
Ich blieb bei Howard und mit dem Rücken zur Tür. Ich setzte mich auf Harts Platz, sodass ich den Eingang sehen konnte. Das brachte mich näher zu Howard, dem das gar nicht passte. Ich roch eine Schwachstelle.
»Wie gut sind Sie?«, fragte ich. »Gut genug, um vor Ihnen Angst zu haben«, antwortete er. Ich tat erstaunt. »Ich bin keiner der bösen Jungs, Howard.« »Ich kann Ihre Aura sehen«, sagte er so leise, dass er bei dem allgemeinen Stimmengewirr und Besteckklirren kaum zu verstehen war.
Die Kellnerin kam mit Wassergläsern und Speisekarten. Ich versicherte ihr, dass die
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