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Anklage

Anklage

Titel: Anklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Schollmeyer
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Staatsanwalt ließ verärgert seinen Stift auf die Tischplatte fallen.
    Einer der Beisitzer fragte: »Was meinen Sie damit konkret? Ich kann keinen Grund sehen, der das Dorf betrifft.«
    »Ich bin mir sicher, dass die heutige Zeugin nicht die einzige ist, die die Vorfälle kannte und dennoch nichts unternommen
hat. Aus den Akten ergibt sich für mich, dass es noch andere Mütter geben muss, die ähnlich handelten. Außerdem würde ich den Bürgermeister und den Pfarrer des Dorfs befragen wollen. Schließlich war mein Mandant aktives Mitglied der Dorfgemeinschaft und hat auch im Kirchenchor gesungen. Da ist es anzunehmen, dass einige Bescheid wussten über die Vorgänge auf seinem Hof. Wenn sich das bestätigt, dann wäre es äußerst strafmildernd, wenn man ihm seinen Straftaten so leicht gemacht hätte.«
    Schweigend notierte der vorsitzende Richter kurze Stichpunkte auf einen Zettel. Der Staatsanwalt schaute hilfesuchend zu ihm, doch sein Blick wurde nicht erwidert.
    »Herr Staatsanwalt, was sagen Sie dazu?«, fragte der vorsitzende Richter den hilflos dreinblickenden Anklagevertreter.
    »Ich bin dagegen.«
    »Gegen was genau?«, fragte einer der Beisitzer.
    »Gegen die Einvernahme anderer Zeugen.«
    »Und wie sollte das Geständnis Ihres Mandanten aussehen?«, fragte der vorsitzende Richter.
    »Ich würde das mit einer Verteidigererklärung machen.«
    Bei einer Verteidigererklärung formuliert der Verteidiger mit wenigen Worten, dass sein Mandant die ihm vorgeworfenen Taten gesteht. Und das war’s auch schon. Kein Wort der Reue oder gar eine Entschuldigung.
    Der Staatsanwalt schwieg. Der vorsitzende Richter nickte wortlos. Wir verließen den Besprechungsraum und jeder der Anwesenden ging auf seinen Platz im Saal zurück. Als ich an meinem Verteidigerplatz ankam, wusste ich, dass ich hatte, was ich wollte. Ich hatte meinen Sieg. Einen Sieg in Form eines Schuldspruchs, der vielen Menschen nicht begreiflich sein würde.
    Im Gerichtssaal gab ich die Verteidigererklärung ab. Abschließend fanden noch die Plädoyers statt, die aber kürzer ausfielen,
da es ja einen Deal gab. In meinem Plädoyer hob ich hervor, dass »den Opfern viel Leid hätte erspart werden können«. Der Staatsanwalt wiederholte mit wenigen Worten seine Anklage. Dann zog sich das Gericht zurück, um das Urteil niederzuschreiben. Trotz eines Deals endet ein Strafverfahren immer mit einem Urteil. Der Deal bestimmt nur den Inhalt des Urteils, macht es aber nicht überflüssig.

12
    Etwa 20 Minuten später kamen die Richter zurück in den Saal. Alle erhoben sich zur Urteilsverkündung. Der vorsitzende Richter setzte eine Lesebrille auf und begann das Urteil zu verlesen.
    »Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte ist schuldig des sexuellen Missbrauchs von Kindern in einhundertsiebenundvierzig Fällen. Er wird zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.«
    Eine Welle des Unverständnisses und der Empörung ging durch die Zuschauerreihen. Viele schüttelten die Köpfe, fragten sich laut, ob das möglich sei in einem Rechtsstaat. Der vorsitzende Richter musste mehrmals Ruhe fordern, um auch die Gründe für dieses Urteil darlegen zu können. Mir war das zu diesem Zeitpunkt bereits egal, denn ich hatte mein Ziel erreicht: Mein Mandant durfte den Gerichtssaal verlassen und musste nicht ins Gefängnis. Er war mehr oder weniger ein freier Mann und ich bekam ein stattliches Honorar. Ich genoss den Triumph, ohne seinen Preis zu sehen.
    In meinem innerlichen Freudentaumel bekam ich nicht einmal mehr mit, dass dem Verurteilten zwar einige Bewährungsauflagen gemacht wurden, er aber keine Konsequenzen zu Gunsten der Opfer tragen musste.
    Ich hatte gesiegt, ein engagierter, mit den Paragrafen und seinen Auslegungen vertrauter Rechtsanwalt hatte einen Erfolg verzeichnet, der nach dem Rechtsverständnis des gesunden Menschenverstands nicht möglich erschien. Dass dieses Urteil kein Sieg der Gerechtigkeit war, das wollte ich nicht wahrhaben. Ein Straftäter, der sich viele Jahre lang an Kindern vergangen hatte, kam mit einer Bewährungsstrafe davon, während
seine Opfer ein Leben lang unter den Folgen dieser Taten leiden würden. Es gab noch nicht einmal eine ideelle oder finanzielle Genugtuung für die Opfer.

    Durch Pressevertreter, wütend schimpfende Angehörige der Opfer und fassungslose Prozessbeobachter bahnte ich mir einen Weg aus dem Gerichtssaal.
    Bei einem Fall von so großem

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