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Anklage

Anklage

Titel: Anklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Schollmeyer
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gefragt, was los ist. Sie hat geweint, aber nichts gesagt.«
    »Und das ist alles?«
    »Ja. So war’s.«
    Der Richter drehte sich zum Staatsanwalt. »Haben Sie noch Fragen?«
    Der Staatsanwalt verneinte.
    »Gut, dann Sie, Herr Verteidiger.«
    Von der wohlmeinenden Fürsorge, mit der der Richter die Zeugin anfangs behandelt hatte, war im Verlauf des Gesprächs nichts mehr übriggeblieben. Im Gegenteil. Er schien kein Verständnis für die Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit zu haben, mit der sie ihre Tochter behandelte. Jetzt hieß es, die Gunst der Stunde zu nutzen.
    »Ich hätte gern gewusst, warum die Zeugin sich damit abgefunden hat, dass ihre Tochter weinte, aber nichts sagte, statt nach dem Grund dieses Verhaltens zu forschen«, fragte ich. Die Zeugin starrte den Richter hilfesuchend an.
    »Bitte beantworten Sie die Frage des Herrn Verteidigers«, forderte der sie auf.

    »Es war halt so. Was soll ich da fragen?«, sagte die Zeugin mit dünner Stimme.
    »Wie oft war Ihre Tochter nach diesem Vorfall noch auf dem Hof des Angeklagten?«, fuhr ich fort.
    Die Zeugin wurde blass. »Das habe ich nicht gezählt.« »Das heißt mehr als dreimal. Ich gehe davon aus, dass Sie bis drei zählen können.«
    Ein stechender Blick vom rechten beisitzenden Richter zeigte mir, dass er solche Provokationen nicht schätzte. Der vorsitzende Richter dagegen regte sich nicht, sondern beobachtete die Zeugin genau.
    »Kann schon sein, vielleicht aber auch nur zweimal«, wand sich die Zeugin.
    Ich blätterte in der Akte und schlug die Seite auf, wo die Tochter der Zeugin über die Vorfälle aussagte. »Nun, Ihre Tochter behauptet, dreimal das Opfer meines Mandanten geworden zu sein. Sie sagt, dass es immer auf dem Hof meines Mandanten passierte. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch den ganz genauen Wortlaut vorlesen!«
    »Dann waren es halt dreimal. Was spielt das für eine Rolle? Zwei oder drei. Der da ist ein Schwein, daran ändert einmal mehr oder weniger auch nichts!«
    »Tatsache ist, dass Sie Ihre Tochter sehenden Auges ins Verderben geschickt haben. Oder haben Sie Ihre eigenen Erfahrungen schon vergessen?«
    Der Druck auf die Zeugin stieg und ich musste jetzt aufpassen, den Bogen nicht zu überspannen. Der Staatsanwalt saß aufrecht in seinem Stuhl. Er wartete auf eine Gelegenheit, mir eine unzulässige Frage - beispielsweise eine mit einer impliziten Antwort versehene Suggestivfrage - vorwerfen zu können, um so den sich abzeichnenden Gang der Dinge aufzuhalten. Der Staatsanwalt lauerte regelrecht auf jeden noch so kleinen handwerklichen Fehler meinerseits, aber da ich das bemerkte,
war ich gewarnt und bestens konzentriert. Alle Fragen waren sauber, er konnte nichts machen. Er musste mitansehen, wie mein Netz um die Zeugin immer enger wurde.
    »Wieso fragen Sie das«, ereiferte sich die Zeugin, »natürlich habe ich das nicht vergessen, so etwas kann man nicht vergessen. Ich werde das mein ganzes Leben mit mir rumtragen. Verstehen Sie: mein ganzes beschissenes Leben! Daran ist nur der schuld.« Sie zeigte auf meinen Mandanten, der regungslos auf seinem Platz saß.
    »Dann erklären Sie mir doch bitte«, fuhr ich in ruhigerem Ton fort, »warum Sie Ihre Tochter, obwohl Sie um die Vorkommnisse auf dem Hof wussten, mehrmals zum Angeklagten gehen ließen.«
    Eine Raunen ging durch den Saal.
    »Weiß ich nicht mehr.«
    »Und warum haben Sie, als Ihre Tochter so verstört nach Hause kam und sich im Kleiderschrank versteckte, über drei Stunden gewartet, bis Sie sie gesucht haben? Weshalb haben Sie erst vor Kurzem Strafanzeige gegen den Angeklagten gestellt? Können Sie das erklären?«

    Im Saal war es mucksmäuschenstill, man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Dann war ein leises Schluchzen zu hören, das immer lauter wurde. Die Zeugin stützte ihr Gesicht in die Hände. Sie weinte. Sonst herrschte gespenstische Ruhe, sogar die Zuschauer waren betreten still. Der Justizwachtmeister erhob sich von seinem Platz und brachte der Zeugin ein Taschentuch. Sie schnäuzte sich und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Dann begann sie leise zu sprechen.
    »Es ist richtig, ich habe meine Tochter mehrmals auf den Hof des Angeklagten geschickt, obwohl ich wusste, was passieren kann. Es war mir damals einfach egal, ich wollte nur meine
Ruhe. Ich hatte Frühschicht und war alleinerziehend. Ich war einfach froh, dass meine Tochter mal weg war. Dann konnte ich schlafen oder auch fernsehen. Ich hatte einfach keine Kraft.

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