Anklage
Juli.«
Ich blätterte kurz in der Akte und deutete auf die Strafanzeige.
»Das ist einen Tag vor der Strafanzeige. Das stimmt doch, oder?«
»Wenn Sie es sagen«, keifte der Zeuge. Auf seiner Stirn waren kleine Schweißperlen zu sehen.
Jetzt war der richtige Zeitpunkt für den Blattschuss gekommen. Jetzt war klar, dass ihn Geldgier, das Verlangen, sein erfolgversprechendes Bauprojekt doch noch in die Realität umsetzen zu können, zur Strafanzeige gebracht hatte, nicht die Sorge um die Opfer. Denn saß der Angeklagte erst im Knast, war der Weg für das Shoppingcenter frei. Was wäre gewesen, wenn mein Mandant verkauft hätte? Würde er dann auch auf der Anklagebank sitzen? Sicher nicht! Auch die anderen Dorfbewohner hätten weiter schweigend zugesehen, genauso wie in den vergangenen 25 Jahren. Es ging - wie immer - nur ums Geld. Offensichtlich steht Geld über Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Offensichtlich entscheiden wirtschaftliche Interessen über das Wohl und Wehe der Menschen. Geld war das Argument und Geld war das Schicksal eines jeden. Ich spürte, wie der Ärger weiter in mir hochstieg, denn ich wollte mich mit dieser Wahrheit nicht abfinden. Warum ließen es die Menschen wie selbstverständlich zu, dass Geld alles dominierte? Wir waren dabei, unsere Menschlichkeit zu verkaufen. Ich
wurde so wütend, dass ich vergaß, was mein Mandant eigentlich getan hatte. Etwas, das eigentlich durch nichts zu rechtfertigen ist, das unterbunden und bestraft gehört. Ich wandte nun das Gesetz an, um den Angeklagten zu schützen. Ich bemächtigte mich des Rechts, um die Gerechtigkeit zu vertreiben, und nutzte genau das Mittel, das viele vor mir verwendeten, um Unrecht im Namen des Rechts zu schaffen: Ich berief mich auf Gesetze und verdrehte ihren Sinn. Ich ließ den Zeugen als geldgeiles Monster erscheinen und schob meinem Mandanten die Opferrolle zu. Der Kinderschänder bekam von mir den Schutz, den eigentlich die missbrauchten Kinder verdient hätten.
Die Befragung des Zeugen endete unspektakulär. Nachdem ich keine Fragen mehr hatte, durfte er gehen. Er stand auf, warf erst mir, dann meinem Mandanten einen finsteren Blick zu, verabschiedete sich vom Gericht und ging.
»Herr Vorsitzender, ich hätte gern ein Rechtsgespräch geführt«, wandte ich mich an den Richter, nachdem der Zeuge entlassen worden war.
Ein Rechtsgespräch hat zum Ziel, das Verfahren abzukürzen und sich mit allen Beteiligten auf einen Schuldspruch zu einigen. Bei einem solchen »Deal« schachert man wie auf einem Basar um die Strafe. Wenn man einen Deal als Verteidiger initiiert, muss man sehr gute Karten haben. Und die hatte ich, denn plötzlich schien die Sache so auszusehen: Es gab eine nicht genau zu klärende Anzahl von Verbrechen. Diese Verbrechen waren aber offensichtlich nur begangen worden, weil Eltern und Nachbarn bereitwillig weggesehen hatten. Ohne dieses Verhalten hätte der Angeklagte keine Opfer gefunden, denn er lebte weitgehend isoliert auf seinem Hof - nur wer ihn besuchte, kam in Gefahr. Und die Gefährdung für die Kinder wäre durch Nachbarn und Eltern sehr leicht zu unterbinden gewesen. Das Strafrecht sieht in derartigen Umständen
einen zum Teil erheblichen Strafmilderungsgrund. Dazu kommt: Gerichte werten Geständnisse eines Täters doppelt strafmildernd, wenn er damit seinen Opfern das Leid erspart, die schreckliche Situation der Straftat nochmals in Form einer eigenen Erzählung als Zeuge durchleben zu müssen. Im Falle meines Mandanten hieß das: Wenn er den Vorwurf einräumte, ersparte er über 70 Opfern die Aussage und dem Gericht teure und aufwändige Prozesstage.
An dieser Stelle ist ein guter Verteidiger gefragt: Er muss versuchen, die Strafe so weit wie möglich herunterzuhandeln. Um Gerechtigkeit geht es dabei nicht, wichtig ist Verhandlungsgeschick.
Mit dieser Taktik im Gepäck ging ich in das Beratungszimmer des Gerichts.
Der vorsitzende Richter ergriff das Wort: »Da wir vollzählig sind, machen wir es kurz. Auf was wollen Sie hinaus, Herr Rechtsanwalt?«
»Wir haben ja um die besonderen Umstände in dem kleinen Dorf gehört. Und auch die Motivation des Anzeigenerstatters ist mehr als deutlich geworden«, begann ich. »Und was ändert das an der Schuld Ihres Mandanten?«, unterbrach mich der Staatsanwalt.
»Mein Mandant würde zur Abkürzung des Verfahrens die Vorwürfe einräumen und so nicht nur die Opfer vor einer belastenden Aussage schützen, sondern das ganze Dorf hätte etwas davon.«
Der
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