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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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Washington schleunigst den Rücken kehren will. Um in der Welt der Großunternehmen zu überleben, will die Post jetzt nur ein Mittler unter anderen sein – ein ebenso effizienter Kassierer von Verbraucherdollars und Versender von Produkten, wie es das Internet trotz allen Geredes seiner Fürsprecher über «Nichtlinearität» und «Pluralismus» sein wird. Der technologische Kapitalismus ist eine Höllenmaschine. Er macht mit uns, was er will. Wenn er die Post nicht von außen zerschlägt, wird er ihr von innen die Seele nehmen. Die Bindung der Amerikaner an ihre Post ist pure Nostalgie. Sie sind ein Volk, dessen Herz nicht mag, was seine Bedürfnisse geschaffen haben, sie sehen beide Seiten der Medaille.
    Als ich endlich wieder zu Hause in Philadelphia bin, erwarten mich fünf Zentimeter Post. William Henderson wird erfreut sein zu erfahren, dass ich vier verschiedene Kreditkartenangebote bekommen habe, die prompt und ohne Zusatzkosten von meinen vorherigen Adressen nachgesendet wurden. Auch Wurfsendungen von Abgeordneten, die ich nicht gewählt habe,sind darunter, Rechnungen von Kreditkarten, die ich schon besitze, vier Nummern der
Los Angeles Times Book Review
, deren gelbe Nachsendeaufkleber mich auffordern, meine neue Adresse mitzuteilen, ein großer, mit dem Gesicht des Entertainers Ed McMahon bedruckter Umschlag, drei fette Werbepacken, die bestimmt interessante Angebote für Discount-Teppichshampoos und Gratispizzas von Little Caesars enthalten, sowie ein einsamer Brief von einem Freund in England. Obwohl er ihn vor Wochen abgeschickt haben muss, reiße ich ihn eilig auf. Er fragt mich, warum ich nicht geschrieben habe.
     
    (1994)

Erika Imports
    W ährend meiner Highschool-Zeit war ich drei Jahre lang Packjunge bei einem deutschen Emigrantenpaar, Erika und Armin Geyer, die im Souterrain ihres düsteren Hauses ein Kleinunternehmen betrieben, Erika Imports, in einem Vorort von St.   Louis. Mehrmals die Woche ließ ich nachmittags eine angenehm riechende Welt der Freiheit und Logik hinter mir, erklomm die Stufen zur dunklen Veranda der Geyers und spähte ins Wohnzimmer, wo Erika, Armin und ihr überfütterter Schnauzer auf alten deutschen Sesseln und Sofas, die Holzfüße hatten, auf für sie typische Weise ausgestreckt lagen und schnarchten. Drinnen war die Luft von Schnitzelfett und runtergebrannten Zigaretten geschwängert. Auf dem Esstisch standen die Ruinen dessen, was bei ihnen
Mittagessen
hieß: mit Butter und Petersilie besprenkelte Teller, eine teilweise geschlachtete Sahnetorte, eine leere Flasche Mosel. Erika, in einem gesteppten Morgenmantel, der klaffend einen Büsten- oder Hüfthalter der Alten Welt enthüllte, schnarchte weiter, während Armin aufstand und mich zu meinem Arbeitsplatz im Souterrain führte.
    Erika Imports hatte Exklusivverträge mit Werkstätten im kommunistischen Ostdeutschland, die handgearbeitete Geschenkartikel herstellten – emaillierte Osterhasen und Weihnachtsmänner, raffiniert bemalte Holzeier, geschnitzte Luxusweihnachtskrippen, Tangram-Puzzles aus Hartholz, kerzenbetriebene Weihnachtspyramiden von bis zu einem Meter Höhe   –, nach denen die Geschenkartikelgeschäfte über die ganze Breite des amerikanischen Herzlands verrückt waren. Daher konnte Erika auch unverschämt zu ihren Kunden sein. Mit beleidigender Achtlosigkeit verschickte sie kaputte oder von Armin wieder zusammengeleimte Ware. Ihre Rechnungen schrieb sie per Hand ineiner deutschen Schrift, die für Amerikaner unleserlich war. Die Aufträge von Kunden, die bei ihr in Ungnade gefallen waren, strich sie zusammen; sie sagte: «Die wollen zwanzig –
ach
! Die kriegen drei.»
    Meine Arbeit im Keller bestand darin, Pappkartons zusammenzubauen, sie mit kleineren Schachteln und Holzwolle zu füllen, anhand der Rechnungen zu prüfen, ob die bestellte Ware auch vollständig war, und die Kartons mit einem Klebeband zu verschließen, das ich mit einem Badeschwamm befeuchtete. Da ich mehr als den Mindestlohn bekam, da ich Spaß an topologischen Verpackungstüfteleien hatte und da die Geyers mich mochten, meine Deutschkenntnisse lobten und mir viel Kuchen zu essen gaben, war es erstaunlich, wie sehr ich die Arbeit hasste – wie sehr ich sogar die Freunde beneidete, die bei Long John Silver’s an der Fritteuse standen oder bei Kentucky Fried Chicken die Ölwannen reinigten.
    Ich hasste, zumindest teilweise, die willkürlichen Übergriffe auf meine Autonomie: die Samstagnachmittage, die von Erikas jähem Bellen

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