Ann Pearlman
hatten wir nach einem Konzert unsere Familie backstage, und zum ersten Mal treffen meine beiden separaten Ichs aufeinander. Das fühlt sich befremdlich an, beinahe peinlich. Das eine ist sexy, flirtet gern und produziert sich vor dem Publikum, und einen größeren Widerspruch könnte es zu meinem Familien-Ich kaum geben. Die Tochter, das von Allie erwähnte kleine Mädchen mit den knubbeligen Knien, das auf dem Klavier rumgeklimpert und vor dem ersten Vorspielen fast gekotzt hat. Oder auch die junge Mutter, über deren chaotische Haushaltsführung Sissy ständig die Augen verdreht. Dazu noch all die anderen Versionen von mir. Aber vielleicht ist das bei erwachsenen Menschen immer so, wir sind doch alle ziemlich komplizierte Wesen, die mehr oder weniger geschickt mit ihren verschiedenen Facetten jonglieren und mal den einen, mal den anderen Aspekt in den Vordergrund rücken.
»Deine Mom wäre so gern hier gewesen. Sie wollte unbedingt kommen, Tara.« Allie hat die Hände auf meine Schultern gelegt und sieht mir in die Augen, als wollte sie mich dazu bringen, Moms Liebe zu fühlen und auch, wie stolz sie auf mich ist. »Aber sie konnte Troy und Sky nicht alleine lassen. Das ging einfach nicht heute Abend.« Sie schüttelt auf eine Art den Kopf, dass ich mir die Frage nach Troy verkneife. Ich möchte nicht, dass mein Hochgefühl so schnell verschwindet, aber ich habe den Gedanken noch nicht fertig gedacht, da ist es auch schon passiert. »Wie geht es ihm?«
Allie presst die Lippen zusammen, und ihr Gesicht wird traurig. »Nicht so gut. Sonst wäre deine Mom ja gekommen.«
»Wo sind eigentlich deine Freunde geblieben?«
Allie runzelt die Stirn. »Oh, du meinst die Typen, denen ich die Tickets geschenkt habe? Die hatten noch irgendwas anderes vor. Aber sie fanden das Konzert super.« Dann fügt sie noch hinzu, als hätte sie es fast vergessen: »Troys Eltern sind jetzt auch im Krankenhaus.«
»Ich kenne seine Eltern kaum. Sie sind nach Florida gezogen, direkt nachdem Troy mit der Highschool fertig war.«
Inzwischen sind Levy und Rachel aufgewacht und rennen in den Seitenkulissen herum. Ich fange Levy ein und schwinge ihn im Kreis, dann mache ich das Gleiche mit Rachel. »Huiiiii«, singe ich dazu, und sie kichert laut. Zu dritt stehen wir an der Seite, während die Crew, Allie und Sissy zu einem mit Essen und Getränken beladenen Tisch gehen. Als Levy mitkriegt, was sie vorhaben, rennt er hinter ihnen her, Rachel windet sich eilig aus meinen Armen und läuft ihm nach.
Dann sehe ich King dort stehen, eine Phalanx von Kerlen hinter sich, die uns vor dem Rest der Leute abschirmen. Als er sieht, dass ich alleine bin, kommt er auf mich zu, lautlos, geschmeidig. Genau genommen geht er nicht, er gleitet. Ich bin ihm noch nie persönlich begegnet und sehe ihn zum ersten Mal aus der Nähe. Seine glatte Haut sieht aus wie braunes Porzellan, seine schwarzen Augen glänzen. Seit Jahrzehnten lebt er in Reichtum und Geborgenheit, abgesichert durch seine Popularität und sein Geld. Jahrzehnte, in denen man ihn angehimmelt, ihm jeden Wunsch und jede Laune von den Augen abgelesen hat, damit er sich ausschließlich auf seine Texte und seine Musik konzentrieren und noch mehr Geld für seine Leute machen konnte.
Ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, schwebt er auf mich zu. »Li’l Key, du hast echt was drauf«, begrüßt er mich. Er ist größer, als ich dachte. Für einen Mann über vierzig ist er gut in Form.
Jahrelang habe ich seine Musik gehört, aber in der Realität hat seine Stimme ein Vibrato und eine Tiefe, die das beste Equipment nicht einfangen kann. Eine Stimme von der Art, wie ich sie auf meinem Keyboard zu erzeugen versuche.
»Waren Sie, äh, warst du beim Konzert?«
»Ja, war ich.« Er neigt den Kopf in meine Richtung. »Und mir hat gefallen, was du machst, du hast Talent, 'ne Menge Kreativität. Ich mag es, wie du verschiedene Welten umspannst.« Er lächelt, und mir wird ganz warm.
Ob mir diese Stimme jemals selbstverständlich werden würde? Oder würde ich immer erst auf ihren Klang hören, bevor ich auf die Worte achte, die sie sagt? Jetzt allerdings strenge ich mich an, mich auf die Worte und ihre Bedeutung zu konzentrieren. »Danke. Das ist eben, was ich tue. Wer ich bin.«
Er taxiert mich träge von oben bis unten und wieder zurück, und ich nehme mich zusammen, um unter seinem Blick nicht zu zappeln. »Hübsch bis du, Kleine – sexy. Ganz eigener Stil.« Er nickt.
»Danke.«
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