Ann Pearlman
und um sein Ohr.
Tara blinzelt ein paar Mal wie in Zeitlupe und schließt die Augen, als wollte sie das Bild auslöschen oder vielleicht ihre Tränen verbergen. Aber dann hebt sie das Kinn, legt die Blumen auf den Boden, zieht die Kette aus der Schachtel, öffnet den Karabinerverschluss und legt sie sich um den Hals. Der Schlüssel hängt direkt unterhalb ihres Schlüsselbeins und ruht zwischen ihren Brüsten. Das krönende Element ihres Outfits, genau das hat noch gefehlt. Wer immer diese Kette für sie gekauft hat, versteht oder kennt sie gut.
Levy im einen, die Blumen im anderen Arm geht sie weg.
Allie folgt ihr.
Jetzt lässt meine kleine Schwester den Kopf hängen, und als sie sich Levy zuwendet und ich ihr Profil sehe, sieht das Make-up plötzlich kindisch aus – ein kleines Mädchen, das sich für Halloween verkleidet hat, nicht mehr der exotische Glitzer-Star.
Ich müsste Mitleid mit ihr haben.
Aber obwohl das schrecklich ist, tut sie mir nicht leid. Tara hat verdient, was ihr jetzt passiert, dafür, was sie Mom angetan hat, dafür, dass sie oft einfach verschwunden ist, einmal ein ganzes Wochenende, dafür, dass sie geschwänzt und gestänkert hat, dafür, dass sie sich in einen Typen im Gefängnis verliebt hat und von ihm schwanger geworden ist, bevor sie mit der Highschool fertig war.
Ich hab nicht mal ein schlechtes Gewissen, weil ich mich freue, dass das Leben sich gegen sie gewandt hat. Warum soll immer nur ich Kummer haben?
Vielleicht können wir jetzt, wo ich sehe, dass das Leben ihr einen Schlag versetzt, Freundinnen sein. Vielleicht kann ich ihr verzeihen, dass sie gegen alle Wahrscheinlichkeit berühmt geworden ist und ihren unmöglichen Traum verwirklicht hat.
In dieser Nacht fahren wir zu Allies Bruder David, wo wir einen Tag verbringen, bevor wir weiter nach Memphis fahren. Mit Troy bin ich einmal von Ann Arbor über Memphis nach L. A. gefahren. Die Crew ist so hergekommen, aber jetzt nehmen sie die südlichere Route, weil sie unterwegs Auftritte haben. Die Konzertorte bestimmen die Route. Zum Glück liegt Davids Haus nur ein paar Meilen vom Highway entfernt.
Tara beschließt, mit Allie, Rachel und Levy zu fahren, um Aaron aus dem Weg zu gehen.
Ich frage Smoke, ob er mich im Möbelwagen mitfahren lässt.
Erst schaut er mich durchdringend an, dann nickt er und zuckt die Achseln.
»Ich glaube, ich möchte in der Nähe meiner Sachen sein«, erkläre ich ihm.
Dann mache ich mir sofort Sorgen – vielleicht habe ich ihn nicht genug beachtet? Dabei finde ich seine Stabilität doch so angenehm. Ich überlege kurz, ob ich sagen soll: »Ich bin nämlich sehr gern mit dir zusammen«, aber das klingt doof.
Anscheinend kann ich nicht die kleinste Kleinigkeit richtig machen.
Die Kinder schlafen tief und fest. Allie führt die Karawane in meinem Auto an.
Smoke und ich bilden mit dem Möbelwagen die Nachhut. Unsere Fahrzeuge sind die einzigen auf der kurvigen Straße durch die Berge, die die Sicht auf den Sternenhimmel verstellen und unheimliche Schatten werfen. Ich schaue aus dem Fenster.
Smoke summt einen Rhythmus vor sich hin, hält sich wach und bei Laune, untermalt das Motorengeräusch, das Surren der Räder auf dem Asphalt. Vielleicht denkt er sich auch die Percussion für eins der Rap-Stücke aus.
Nach ungefähr einer halben Stunde sagt er: »Tara steht vor einer wichtigen Entscheidung. Verstehst du?«
»Nein.«
»King versucht, sie von Special und der Crew wegzulocken.«
»King? Der King?«
»Mhmm«, nickt er. »Er war beim Konzert in L. A. und in Albuquerque. Der Typ mit der Kette war einer von seinen Leuten.«
»Ist Sex der Grund, warum er sie von euch weglocken will?«
»Sex?« Er schüttelt den Kopf und schaut mich an. Selbst in der Dunkelheit werfen seine Augenbrauen tiefe Schatten. »Vielleicht spielt Sex auch eine Rolle. Aber hauptsächlich geht es um ihr Talent und darum, wie er es ausnutzen kann. Sie hält ihn auf Distanz, und er erhöht den Einsatz. Diese Kette, das war ein ziemlicher Hammer.«
»Ja.«
»Es ist immer ein Kampf, inwieweit man das eigene Ding durchzieht oder Kompromisse eingeht. Wie viel gibt man für die Liebe, für die Freunde auf? Vor allem für einen Künstler ist die persönliche Vision wichtig.«
»Ich hab angenommen, sie spielt nur rum. Du weißt schon, wie man das manchmal macht.« Natürlich haben auch Troy und ich manchmal darüber geredet, wie viel »Ich« man für das »Wir« aufgibt. Damit haben vermutlich alle Paare zu tun, aber
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