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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard David Precht
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bisherigen Standardmodell. Wie ausführlich erklärt, sollte die Lernzeit beziehungsweise Lerngeschwindigkeit an Bedeutung verlieren gegenüber dem persönlichen Lernweg. In Bezug auf das Diktat bedeutet dies: Um wie viel intensiver lässt sich meine Rechtschreibung verbessern, wenn mir ein Lehrer ein Diktat auf den Leib schneidert, mithin auf meine Lieblingsfehler? So ein Klassiker wäre zum Beispiel die vertrackte Sache mit » i « oder » ie « , die Kinder schon deshalb oft nicht hinbekommen, weil sie am Anfang den » Tiger « und den » Igel « von dem » Kiesel « und dem » Sieger « unterscheiden lernen sollen, obwohl es gesprochen gar keinen Unterschied gibt. Solche Dinge kann man nur durch Üben lernen, denn es gibt hier leider überhaupt nichts zu verstehen.
    Dass so ein Test mitunter mit leichtem Stress einhergeht und kurzfristig als Hindernis empfunden wird, das man überwinden muss, sollte nicht als schlecht, sondern als Anreiz eingestuft werden. Dabei messen sinnvolle Tests nicht mehr in erster Linie die Quantität von Wissen oder Korrektheit, sondern die Qualität einer Verbesserung oder Verschlechterung gegenüber den eigenen Leistungen. Solche Tests sollten zu gegebener Zeit durchgeführt und nicht mit einer Ziffern-Zensur, sondern einem Kommentar versehen werden. Dass Lehrer ihre Schüler dafür sehr genau beobachten und kennen müssen, ist klar. Wer Ziffern-Zensuren abschafft, kann das nur tun, wenn er kleine Lerngruppen mit möglichst mehreren Lehrern realisiert; alles andere ist illusorisch. Aber warum sollte man solche Lernbedingungen nicht zuwege bringen? Wäre es nicht alle Anstrengungen wert?
    Der zweite Bereich von Beurteilungen erfordert noch weit mehr Anstrengung als der erste. Viele Leistungen lassen sich auch bei viel Mühe grundsätzlich nicht auf eine Ziffern-Zensur bringen, ohne viel zu viele subjektive Wertungen in dem dünnen Gehäuse einer Zahl auf dem Papier zu verstecken. Wie bewertet man ein selbst geschriebenes Gedicht oder eine Erzählung? Eine böse Vier für ein herzzerreißend bemühtes Liebesgedicht? Soll man Bilder zensieren oder etwa ein Klavierspiel? Muss ich für das Theaterspiel im Goethe-Projekt Einsen, Zweien, Dreien und Vieren als Lohn oder zur Selbsteinschätzung verteilen? Und wäre es nicht eine Befreiung, den zähen Handstandversuch eines fettleibigen Kindes nicht mehr benoten zu müssen, während ein kleiner Modellathlet ohne jegliche Anstrengung seine Eins einheimst? Soll aller Unterricht und jede Lernbeziehung davon überschattet sein?
    Noch schwieriger wird es, wenn man versucht, die emotionale Intelligenz und soziale Kompetenz von Schülern zu bewerten. Die sogenannten Soft Skills fallen in der Schule bislang vor allem deshalb nicht ins Gewicht, weil man sie nicht mit Zensuren versehen kann. Hatte man sie in früherer Zeit als » Kopfnoten « gesondert bewertet, so sind diese Kopfnoten (in ihrem veralteten Zuschnitt auf ein Dasein als Postpferd) heute zu Recht in den meisten Bundesländern abgeschafft. Sie durch andere Kopfnoten ersetzen wollen, hilft nicht weiter – allenfalls macht man damit das Übel augenfällig, die Individualität eines jungen Menschen in ein Ziffernsystem pressen zu wollen.
    Bereiche wie diese können nur durch die längere schriftliche Beurteilung eines Lern- und Entwicklungswegs erfasst und begutachtet werden. Nicht anders sollte man sich Zeugnisse vorstellen. Was mittlerweile für nicht wenige Grundschulklassen gilt, sollte auf der weiterführenden Schule nicht anders aussehen: Wie viel Anstrengungen hatte es von den siebziger Jahren an gekostet, die Zeugnisse des ersten und dann des zweiten Schuljahres notenfrei zu machen! Der Einwand dagegen war identisch mit dem von heute: Die Lernmotivation der Kinder würde sinken. Inzwischen ist klar, dass das Unsinn ist. Warum also die weitere Befreiung von der Ziffern-Zensur nicht vorantreiben? Statt ein paar Zahlen brauchen wir auch für ältere Kinder ein dreidimensionales Bild ihrer Persönlichkeit und keinen maschinenlesbaren Ziffern-Code.
    Nicht anders sollten die Abschlusszeugnisse aussehen. Sie sollten ein differenziertes Bild vom Lernen, Können und der Persönlichkeit eines Schülers abgeben. Dies gilt für ein Abgangszeugnis nach dem zehnten Schuljahr genauso wie für ein Abiturzeugnis. Statt einer konventionellen Abiturprüfung wäre zu empfehlen, ein konkretes Projekt zu begutachten, das der Schüler im letzten Schuljahr entwickelt hat – dies kann von einem Sonderprogramm

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