Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
obendrein allein, wenn man bedenkt, was zwischen den beiden vorgefallen war. Stattdessen stelle ich die zweite naheliegende Frage. »Warum hast du nicht die Polizei gerufen? Was jeder vernünftige, normale Mensch getan hätte?«
»Ich hatte Angst«, stößt sie rasch hervor. Sie antwortet zwar auf meine Frage, doch ihr Blick weicht nicht von David ab. Sie könnte seine Aufmerksamkeit nicht gründlicher fesseln, wenn sie ihn an ihren Schreibtisch binden würde.
Ich weiß nicht, ob sie die Wahrheit sagt oder nicht, aber ich habe genug von dem Drama. Höchste Zeit, David wegzuschicken, damit ich ein paar direktere Fragen stellen kann.
»David, geh nach Hause. Detective Harris erwartet Gloria und ihren Anwalt in einer halben Stunde. Ich bleibe hier, bis er kommt. Gloria, ruf deinen Anwalt an.«
David macht instinktiv einen Schritt auf Gloria zu. »Ich lasse sie nicht allein. Ich komme mit.«
Auch ich trete einen Schritt vor, zwischen die beiden. »Hast du nicht gehört, was Harris gesagt hat? Er will dich verhaften lassen. Ich glaube nicht, dass das scherzhaft gemeint war. Du hast ihn verärgert.«
David packt mich bei den Schultern. »Dann versprich mir, dass du mit ihr hingehst. Sorg dafür, dass die sie nicht hereinlegen und sie dazu bringen, etwas zu sagen, womit sie sich belastet.«
»Ihr Anwalt wird dabei sein. Das ist sein Job.«
»Das ist mir egal. Wenn du sie nicht begleitest, gehe ich mit.«
Ich ziehe seine Hände von meinen Schultern. »Du kannst ihr nicht helfen. Wenn du dich vorhin her-ausgehalten hättest, als Harris hier war, bräuchten wir diese Diskussion gar nicht zu führen. Gloria wird ihren Anwalt anrufen, und der wird ihre Interessen wahren. Dafür bezahlt sie ihn schließlich, nicht wahr, Gloria?«
Wir beide drehen uns nach der Seite um, wo Gloria gerade noch auf dem Teppich hin und her gelaufen ist. Nur, dass da jetzt keine Gloria mehr ist. Die Tür steht offen. Ich weiß nicht, wie sie das angestellt hat, aber das Biest ist in seinen natürlichen Lebensraum entwischt – die Gasse.
Kapitel 12
»Sie ist weg?« Davids Stimme klingt vor Fassungslosigkeit etwa zehn Oktaven höher. Er geht zwei Schritte auf die Tür zu und schaut hinaus. »Sie ist verschwunden.« Er wendet sich wieder mir zu, und Ungläubigkeit verdüstert seine Miene wie eine Gewitterwolke. »Warum sollte sie weglaufen?«
Ich schaue von der offenen Tür zu David. Gute Frage, aber er ist schon zur Tür hinaus, ehe ich auch nur spekulieren kann. Ich bin ihm dicht auf den Fersen, als sein Handy klingelt. Abrupt bleibt er stehen, wirft einen Blick aufs Display und klappt das Telefon auf.
»Gloria? Warum zum Teufel bist du .... « Er verstummt, hört zu, runzelt die Stirn. Gleich darauf klappt er das Handy wieder zu, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben. Er sieht mich an. »Das war Gloria.«
»Ach, wirklich. Was hat sie gesagt?«
»Sie verlässt die Stadt. Sie hat gesagt, sie würde sich bald bei mir melden. Und ich soll mich da heraushalten.« Er zerrt seine Brieftasche hervor und kramt darin herum.
»Was suchst du denn?«, frage ich.
Er antwortet nicht, bis er es gefunden hat. Er hält eine Visitenkarte hoch. »Glorias Anwalt. Den rufe ich jetzt an.«
»Herrgott noch mal, sie hat gesagt, du sollst dich da heraushalten. Gloria soll ihren Anwalt selbst anrufen. Sie ist diejenige, die in Schwierigkeiten steckt.« David hört mir nicht zu. Er ist schon wieder drinnen, am Telefon auf dem Schreibtisch, und wählt. Ich lausche der einen Seite des Gesprächs.
»Hal? Hier ist David Ryan. Ja, ich weiß. Lange her. Ich rufe an, weil Gloria Sie braucht. Ach, nicht? Sie sind in Florida? Drei Stunden später als in Kalifornien? Tut mir leid. Äh, tun Sie mir bitte einen Gefallen. Wenn Gloria anruft, sagen Sie ihr, dass sie mich anrufen soll? Doch, ja, die Sache könnte durchaus ernst sein, aber das sollte Gloria selbst mit Ihnen besprechen. Sie wird sich sicher bei Ihnen melden. Danke, Hal. Und bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ja. Bis dann.«
David legt auf. »Er ist nicht da.« Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht und lässt sich in Glorias Sessel sinken. »Warum ist sie abgehauen? Und wo will sie hin?« Die Antwort, die mir auf der Zunge liegt – in die Hölle vermutlich –, würde David nicht gefallen. Ebenso wenig wie der Hinweis, dass Gloria sich nicht gerade wie eine Unschuldige verhält, ganz gleich, was sie behauptet.
Ich nehme ihn beim Arm, ziehe ihn aus dem Sessel und schiebe ihn zur Tür. »Na
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