Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
Seither hat es nie jemand ein zweites Mal versucht.
Im Winter ist es anders. Ich finde es seltsam, dass man den Winter in San Diego irgendwie als Nebensaison betrachtet. Ja, es ist bewölkt und neblig, die Grautöne gehen so ineinander über, dass man manchmal kaum erkennen kann, wo der Himmel endet und das Meer beginnt. Aber es wird selten kühler als fünfzehn Grad, und das Wasser ist zwar nicht warm, zieht dafür aber mehr gute Surfer an.
Nicht die jungen, sonnengebräunten Surfer, die saufen und Party machen und nur in lärmenden Horden auftreten, sondern eine reifere, ernste und respektvolle Sorte Surfer, die das Meer achten, statt es mit ihren Brettern besiegen zu wollen.
Wow. Ich halte die warme Tasse in beiden Händen und drücke sie mir an die Stirn. Das war ja beinahe poetisch. Muss an dem Nebel liegen, der in pittoresken Wirbeln vom Meer hereinrollt, in Kombination mit der inneren Ruhe nach einer derart befriedigenden Nacht.
Ich weiß, dass dieses Glühen nicht lange anhalten wird. Williams hat gesagt, die Werwölfin Sandra wolle mich sehen. Dann sind da David und seine Sorgen. Ich will gar nicht daran denken, wie er heute aufgelegt sein mag. Wenn er ins Büro kommt, dann hoffentlich nicht mit Gloria im Schlepptau.
Als ich gerade hinuntergehe, um mir eine zweite Tasse Kaffee zu holen, klingelt das Telefon. Mein Handy. Ich greife im Vorbeigehen danach und schaue aufs Display. Ich rechne damit, dass der Anruf aus unserem Büro oder von Davids Handy kommt, aber die angezeigte Nummer kenne ich nicht.
»Hallo?«
Einen Augenblick herrscht Schweigen, dann kommt ein gehauchtes: »Anna?«
Na toll. Gloria. Ich widerstehe dem Impuls, aufzulegen und das Handy abzuschalten. »Was willst du?«
»Ich muss mit dir reden. Persönlich.«
»Ich will dich aber nicht sehen. Wir haben nichts zu bereden. Bist du bei David? Weiß er, dass du mich anrufst?«
Erneutes Schweigen. »Ich habe nicht mit David gesprochen, seit ich das Restaurant verlassen habe.«
»Was soll das heißen? Ist dir denn nicht klar, was für Sorgen er sich macht? Nicht zu fassen, dass du ihn nicht sofort angerufen hast, nachdem sie dich gestern Abend haben gehen lassen.«
Diesmal dauert das Schweigen am anderen Ende so lang, dass ich schon glaubte, die Verbindung wäre unterbrochen, doch dann höre ich ein scharfes Luftholen, gefolgt von ersticktem Schluchzen.
»Gloria? Was ist los?«
Eine leises, zittriges Stimmchen antwortet: »Sie haben mich nicht gehen lassen. Sie haben mich festgenommen.«
Ich brauche gar nicht erst zu fragen, weshalb. »Herrgott, Gloria. Hast du schon mit einem Anwalt gesprochen?«
»Ja. David hat mir gestern Nacht seinen Anwalt geschickt, aber der meint, ich bräuchte einen Strafverteidiger. Er hat mir jemanden empfohlen, einen Jamie Sutherland. Er müsste bald da sein.«
»Warum rufst du dann mich an? Du solltest mit David sprechen. Er ist sicher schon verrückt vor Sorge.«
Ein kurzes, bitteres, humorloses Lachen. »Nein. Er will sicher nicht mit mir sprechen. Du hast die Zeitung von heute noch nicht gesehen, oder?«
Inzwischen bin ich in der Küche angekommen, und mein Blick huscht zur Haustür. Ich habe mir noch nicht die Mühe gemacht, die Zeitung hereinzuholen, also tue ich es jetzt. Sie ist so vollgestopft mit Beilagen, dass sie in meinem Griff halb auseinanderfällt und sich die Werbeblätter über den Fußboden verteilen.
»Verdammt noch mal.«
Gloria beginnt zu wimmern. »Ich weiß. Ich weiß. Das war dumm von mir.«
Sie glaubt, ich würde sie beschimpfen. Gut. Ich schüttele den vordersten Teil auf, klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter und halte die erste Seite hoch.
»Ach du Scheiße.«
Diesmal gelten die Worte tatsächlich ihr. Die Schlagzeile lautet: Ermordeter Milliardär – Geschäftspartnerin Gloria Estrella verhaftet. In etwas kleinerer Schrift geht es weiter: Rory O’Sullivans Ehefrau: Motiv ist schmutzige Liebesaffäre.
»Affäre, Gloria? Du hast doch behauptet, du hättest nur einmal mit ihm geschlafen.« Als sie diesmal nicht antwortet, überrascht mich das Schweigen nicht mehr.
Kapitel 14
Gloria schluchzt leise vor sich hin. Ich verdrehe die Augen, sage aber nichts. Sie klingt verängstigt.
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund ist mir nicht danach, Salz in die Wunde zu streuen. Ich werfe auch den Rest der Zeitung auf den Boden und lehne mich an die Küchentheke. Ich gebe ihr noch eine Minute. Himmel, allmählich werde ich wohl weich.
Die Minute verstreicht. Gloria
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