Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
Trotzdem höre ich mich sagen: »Also gut. Um neun.«
»So ist es brav.« Das Schnurren ist wieder da. »Bis dahin einen schönen Tag, Anna.« Sie legt auf.
So ist es brav? Diesen herablassenden Mist würde ich mir von keiner Freundin gefallen lassen, geschweige denn von einer Fremden. Ich weiß nicht, was für eine Magie diese Werfrau draufhat, aber ehe ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenübertrete, werde ich das herausfinden, so viel ist sicher.
Ich starre das Handy an und fühle mich wie ein Boot, das vom Steg losgerissen wurde. Wozu habe ich gerade ja gesagt? Und warum zum Teufel habe ich das getan? Ein halbes Jahr lang habe ich Williams’ sämtlichen Bemühungen getrotzt, mich wieder in Averys Haus zu bekommen, und Sandra hat zwei Sekunden gebraucht, um mich dazu zu bringen, dass ich mich dort mit ihr verabrede.
Scheiße. Ich muss zu Gloria. Aber vorher muss ich noch jemand anderen besuchen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn zu Hause antreffen werde. Er ist Lehrer, und er hat kein Auto. Wo sonst sollte Daniel Frey so früh am Samstagmorgen also sein?
Kapitel 16
Daniel Frey lebt in Mission Valley in einer großen, exklusiven Wohnanlage mit Blick über die Stadt. Die Zufahrt ist geschlossen, und ich lehne mich aus dem Fenster, um bei ihm zu klingeln.
Er meldet sich mit einem barschen »Ja? Wer ist da?«.
»Was ist denn das für eine Begrüßung?«
»Anna?« Eine Pause. »Willst du zu mir?«
»Nein. Zu deinem Nachbarn, diesem niedlichen Rentner. Natürlich will ich zu dir. Lässt du mich jetzt bitte rein?«
Eine weitere Pause. »Frey, was ist denn? Warum lässt du mich nicht rein?«
Keine Antwort. Ich warte, dann endlich geht das Tor auf.
Ich drücke aufs Gas und rase durch, ehe er es sich anders überlegt. Was sollte das alles? Ich weiß, wir haben uns nicht mehr gesehen, seit wir an Halloween eine Dämonen-Beschwörung ruiniert haben, aber da standen wir miteinander auf gutem Fuß.
Ich habe ihm das Leben gerettet, Herrgott noch mal. Na ja, streng genommen hat eine Empathin ihm das Leben gerettet, aber ich habe ihm den Arsch gerettet, was wiederum der Empathin ermöglichte, ihm das Leben zu retten, also sollte das auch etwas zählen.
Bis ich seine Wohnungstür erreiche, habe ich mich in eine hübsche Empörung hineingesteigert. Ich will gerade auf die Klingel drücken, als die Tür aufgeht. Frey empfängt mich mit einem Stirnrunzeln, tritt heraus auf den Flur und zieht die Tür hinter sich zu.
»Das passt mir gerade gar nicht, Anna«, sagt er.
Im ersten Moment bin ich zu abgelenkt von seiner Kleidung, um mich über die alles andere als herzliche Begrüßung zu ärgern. Er versucht noch, den weißen Frotteebademantel zu schließen, aber er ist nicht schnell genug und der Bademantel nicht weit genug, um vor mir zu verbergen, was er darunter trägt.
Frey ist Gestaltwandler, seine zweite Gestalt ist ein Panther. Als Mensch ist er von Beruf Lehrer, und er unterrichtet an der Highschool, die meine Mutter leitet. So haben wir uns kennengelernt. Er ist Mitte vierzig, groß, mit graumeliertem Haar und einem Gesicht, das Humor und Intelligenz ausstrahlt. Er kleidet sich konservativ und trägt am liebsten schlichte Hosen und Polohemden mit offenem Kragen. Ihn also in einem babyblauen Pyjama vor mir zu sehen, mit schwarzen Kätzchen bedruckt, ruft bei mir fassungsloses Staunen hervor. Ich kriege den Mund nicht mehr zu.
Seine Lippen formen sich zu einem schmalen Strich. »Was ist?«
Mein Staunen weicht dem unwiderstehlichen Drang zu lachen. Keine kluge Reaktion, wenn ich seine Hilfe möchte. Ich schlucke schwer und versuche, das Lächeln von meinem Gesicht zu tilgen.
Frey bemerkt es sehr wohl. Seine Miene wird noch finsterer. »Was?«
»Ich muss etwas recherchieren. Und ich dachte mir, am besten fange ich in deiner Bibliothek an.«
»Was willst du recherchieren?«
»Deine Verwandten.«
»Verwandten?«
»Die Werseite der tierischen Familie.«
Seine Brauen ziehen sich zusammen. »Gestaltwandler sind in keinster Weise mit Werwesen verwandt. Das sind Rudeltiere, sowohl in tierischer wie in menschlicher Gestalt sehr gefährlich.« Er sieht mich an, und zum ersten Mal drückt sein Gesicht noch etwas anderes als Gereiztheit aus. »An-na, von Werwesen musst du dich fernhalten. Hat Williams dir das nicht gesagt?«
»Nein. Gelegenheit dazu hatte er reichlich. Ich habe ihn erst gestern Nacht getroffen. Also, mir bleibt in diesem Fall keine andere Wahl. Ich muss wissen, was für Magie sie beherrschen.
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