Anna Strong Chronicles 05 - Blutrotes Verlangen
und Lastwagen kamen und gingen wie Ameisen bei einem Picknick. Ich springe hinauf. Durch die Fenster auf Höhe des ersten Stocks kann ich in die Fabrikhalle schauen. Ich suche nach dem Wachmann. Niemand zu sehen. Erst als ich mir die Halle gründlicher anschaue, fällt mir auf, was ich sonst noch nicht sehe.
Da ist nichts auf dem Fließband. Es ist vollkommen leer. In dem Moment, als ich das begreife, sträubt sich knisternd das Haar in meinem Nacken, als hätte mich eine himmlische Hand berührt.
Das ist das Letzte, was ich spüre, ehe ich von dem Gebäude gefegt und auf den Boden geschleudert werde.
Kapitel 26
Die Wucht der Explosion lässt sämtliche Fensterscheiben bersten und Glassplitter auf mich herabregnen.
Ich bleibe einen Moment lang auf dem Boden liegen und mache Inventur. Meine Haut brennt, meine Ohren klingeln. Ich sehe kein Blut. Ich liege auf der Seite, etwa sieben Meter von der Halle entfernt. Ich versuche, mich auf den Rücken zu drehen und auszustrecken. Mein linker Arm tut weh, und ich merke, dass er oberhalb des Ellbogens in einem unnatürlichen Winkel verdreht ist. Wahrscheinlich ist er gebrochen, obwohl kein Knochen hervorragt.
Ich setze mich auf. Mein Rücken protestiert, gehorcht aber meinem geistigen Befehl, sich zu bewegen. Der linke Arm macht ernsthafte Schwierigkeiten. Vorsichtig taste ich ihn mit den Fingern ab, bis ich die Stelle finde, wo der Knochen sich gegen die Haut drückt. Ich packe den Arm mit der rechten Hand und reiße mit einem kräftigen Ruck daran.
Vor Schmerz wird mir schwarz vor Augen. Mit einem ekelhaften Plopp findet der Knochen in seine richtige Position zurück. Mehr brauche ich nicht zu tun. Die vampirischen Selbstheilungskräfte werden den Rest erledigen.
Bis auf die Schmerzen. Es tut wirklich verdammt weh. Das Klingeln in meinen Ohren verebbt zu einem dumpfen Dröhnen, und ich schüttele den Kopf, um es loszuwerden.
Erst halte ich das Geräusch, das ich höre, für eine Nachwirkung der Explosion, aber irgendeine Veränderung der Tonlage lässt es weniger wie ein Knalltrauma klingen und mehr wie… Schreie. Ich springe auf und renne auf das brennende Gebäude zu. Das ist keine Einbildung. Ich höre es in meinem Kopf. In meinem Kopf. Vampire. Sie sind da drin gefangen.
Das Gebäude brennt lichterloh. Flammen schießen durch die Fensteröffnungen heraus. Rauch und Hitze machen mir nichts aus. Feuer schon. Verbrennen ist eine der wenigen Möglichkeiten, einen Vampir zu töten.
Ich rase nach vorn. Vielleicht komme ich noch durch die Tür hinein. Sie hängt offen in ihrem von der Explosion verzerrten Rahmen. Hier brennt es nicht, noch nicht. Aber da ist auch niemand, weder im Empfangsbereich noch im Bürotrakt dahinter.
Ich sende einen suchenden Gedanken aus. Wo seid ihr?
Ein Chor verzweifelter Stimmen antwortet mir. Im Keller. Wir sind im Keller. Keller? Der Flur, in dem ich stehe, führt nur in die Fabrikhalle. Da bin ich sicher. Ich bin gestern Nacht hier durchgelaufen. Ich weiß nicht, wie ich da hinkomme. Sagt es mir.
Eine gequält klingende weibliche Stimme antwortet : Wir wissen es nicht. Wir waren betäubt, als man uns hierhergebracht hat. Bitte, hilf uns.
Frust und Panik krallen sich an meinem Herzen fest. Ich kann nicht über die Treppe zurück zur Fabrik. Die Flammen sind schon zu hoch. Ich spüre die Hitze durch die Schuhsohlen. Vielleicht gibt es doch einen anderen Weg. Ich renne hinaus und um das Gebäude herum auf der Suche nach irgendetwas, das ein weiterer Zugang sein könnte. Ich bitte die Vampirin weiterzusprechen und hoffe, dass ihre Stimme mich hinführen wird. Sie brabbelt panisch weinend vor sich hin und fleht mich an, sie zu retten.
Ich kann nicht. Ich finde keinen anderen Weg nach drinnen. Die Stimme der Vampirin wird schrill vor Angst.
Ich schlage mit den Fäusten gegen das Tor der Ladebucht . Warum könnt ihr euch nicht selbst befreien? Frust und Hilflosigkeit lassen meine Stimme zu einem zornigen Heulen werden.
Es geht nicht. Die Halsbänder.
In ihrer Antwort liegt eine solche Verzweiflung, dass Reue und neue Entschlossenheit in mir aufwallen. Ich fange noch einmal von vorn an. Von der Tür aus arbeite ich mich um das Gebäude herum, bis ich mit den Fingern am Blech des unteren Rands der Laderampe entlangfahre. Ich ignoriere das glühend heiße Metall, das mir die Finger versengt.
Bis ich sie finde: eine Schweißnaht in der Mitte, unterhalb des mittleren Ladetors. Ich sehe keinen Riegel, keine Angeln, kein Schlüsselloch.
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