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Anna und Anna (German Edition)

Anna und Anna (German Edition)

Titel: Anna und Anna (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Inden
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man gerne gehören möchte.
    Gut, Küsse können Kummer nach sich ziehen, Liebe kann vergehen und Herzschmerz zurücklassen, aber das Küssen an sich sollte trotzdem zum Volkssport Nummer eins erklärt werden. Es ist gesund (erstens wird gerne an der frischen Luft geküsst, zweitens trainiert es ungemein die Gelenkigkeit, wenn man sich so richtig umeinanderwindet), es macht schön (nie sind Lippen so rot wie frisch geküsst) und es kann durchaus die Völkerverständigung fördern (man nehme nur Helen und James, mich und Henri …).
    Allerdings birgt das Küssen Risiken. Manche können diesem herrlichen Zeitvertreib zwar so emotional ungerührt nachgehen wie dem Radfahren, am Ende steigen sie ab und gehen zur Tagesordnung über, andere aber küssen mit Herz. Ich glaube, du gehörst zur zweiten Kategorie.
    Ich sage nicht: Pass bloß auf! Ich sage nur: Es ist gut, sich selbst zu kennen. Und als eine, die dich ziemlich gut kennt, würde ich dir, wenn du denn wirklich einen Rat von mir möchtest, diesen hier geben: Küsse drauflos! Liebe drauflos! Das entspricht einem Piraten vom Rosensteg. Habe keine Angst vor dem Morgen, frage nicht furchtsam »Was wäre, wenn?«, stell dich den Dingen einfach, wenn sie passieren, das ist früh genug.
    Goethes Faust hast du ja noch nicht gelesen, aber der alte Schlawiner war auf der Suche nach einem Augenblick, in dem einfach alles zu stimmen scheint. Ich würde sagen, du im Mohnfeld und mit Jan an deiner Seite hast so einen Moment erlebt. Er ist so perfekt, so außergewöhnlich, dass man denkt: Oh bitte, lass ihn niemals enden.
    Ich denke, je mehr solcher Momente du in deinem Leben zusammensammeln kannst, desto glücklicher bist du. Und ich glaube, es geht nicht darum, dass diese Momente dich finden, sondern darum, dass du sie erkennst.
    So wie im Mohnfeld.
    Und auf dem Wasser.
    Du machst das schon richtig, Käptn, keine Sorge. Halte nur weiter die Nase in den Wind.
     
    Alles Liebe,
    deine Oma
     
    Mein liebes linkes Bein,
     
    ich bin nachdenklich gestimmt an diesem Morgen.
    Vielleicht liegt es daran, dass ich mal wieder ein ganzes Haus für mich habe. Meine Gedanken hallen durch die leeren Räume. Sie werden plötzlich so laut, dass ich sie nicht mehr überhören kann. Vielleicht liegt es aber auch an dem letzten Brief, den ich geschrieben habe. Jedenfalls ist das Ergebnis dieses: Ich glaube, ich muss dir heute Abbitte leisten.
    Meine Enkeltochter hat mich um Rat gefragt und ich habe ihr geantwortet. Und jetzt frage ich mich, ob ich nicht meine eigenen Ratschläge befolgen sollte. »Stell dich den Dingen, wenn sie passieren«, habe ich ihr geschrieben. »Das ist früh genug.«
    Wie wahr!, möchte ich mir selber zurufen und mir vielleicht noch lobend auf die Schulter klopfen. Liebe Anna, gut gesagt! Aber, liebe Anna, nicht gut gehandelt.
    Denke ich jetzt, befürchte ich jetzt.
    Ich, die ich immer so stolz war auf meinen Eigensinn, die ich meine Sturheit stets als Haltung verkaufte, frage mich, ob ich nicht eigentlich ein feiger Hund bin. Ein Verdränger vor dem Herrn. Denn sich den Dingen zu stellen, wenn sie passieren, setzt natürlich voraus, dass man überhaupt bereit ist, sich den Dingen zu stellen.
    Und, man höre und staune, das bin ich nicht.
    War ich auch noch nie! Wird mir klar, wenn ich jetzt darüber nachdenke.
    Dieser Gedanke lässt sich nicht verscheuchen. Er folgt mir vom Schlafzimmer ins Badezimmer, in die Küche und hinaus in den Garten. Während ich in der Morgensonne meinen Milchkaffee trinke, sitzt er daneben und lächelt wissend.
    Ich trinke meinen Kaffee inzwischen ungesüßt. Ich tue keinen Zucker mehr hinein. Und ich nehme meine Medikamente. Die sture Anna hat nachgegeben.
    Es ist zu spät für dich, mein liebes linkes Bein, und das tut mir leid. Aber es ist vielleicht noch nicht zu spät für mich.
     

 

     
    Lieber Jan,
     
    die Schule hat wieder angefangen und sie tötet mir den letzten Nerv.
    Einziger Lichtblick: Nächstes Wochenende fahren wir Oma Bloom abholen. Ich freue mich. Auf Oma, aber auch auf ihr Häuschen. Ich war schon ewig nicht mehr da, ich erinnere mich nur dunkel an kleine Zimmer mit viel Licht, aber ich erinnere mich gut an die alte Scheune, die keine mehr ist. Dort hängen viele Spiegel an den Wänden, in denen Oma sich sehen konnte, wenn sie tanzte, und Bilder hängen da, gerahmte Fotos, die alle Oma zeigen, Oma in Jung und in Schön, ich glaube, ich muss mir dieses Mal die Geschichten zu den Bildern erzählen lassen.
    Und was hast du

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