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Anna und Anna (German Edition)

Anna und Anna (German Edition)

Titel: Anna und Anna (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Inden
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brummt herein. Sie fliegt ein paar Mal gegen das Fensterglas, bevor sie merkt, dass der Ausgang zwei Zentimeter weiter links liegt. Sonst ist da nichts. Ich lausche angestrengter. Halte den Stift still und den Atem an. Dann, als die Nachtigall den Schnabel hält, höre ich etwas, was ich als Apfelhälften identifiziere, die auseinanderbrechen, in Stücke geschnitten werden und in eine Schüssel fallen.
    Mama schnippelt den Belag für ihren Kuchen klein. Dabei zieht sie immer wieder die Nase hoch, so als ob sie Schnupfen hätte. Sie hat aber gar keinen.
    »Bella!«
    Das ist meine Oma. Sie klingt, wie sie eben aus der Scheune gehinkt ist. Alt. Und müde.
    »Findest du wirklich, Bella«, sagt meine müde Oma, »du kannst mir vorwerfen, dass ich mich vor über fünfzig Jahren verliebt habe? Vor über fünfzig Jahren, Bella.«
    Das Messer landet mit einem Knall in der Plastikschüssel.
    »Ich habe«, sagt meine Mutter erstickt, »dir deinen Henri in all der Zeit noch nie vorgeworfen.«
    »Nein«, sagt Oma ruhig. »Hast du nicht. Soweit ich mich erinnern kann, hast du mir überhaupt noch nie etwas vorgeworfen. Warum jetzt?«
    Mama schweigt. »Ich weiß nicht. Weil er wieder da ist vielleicht.«
    Die Nachtigall fängt wieder an zu singen.
    »Du warst«, sagt Oma, »noch nicht einmal geboren. Damals.«
    »Aber du warst schon mit Vati verheiratet, als das mit Henri anfing!«
    »Ja. So etwas passiert.«
    »So etwas passiert?« Die Schüssel mit den Apfelstücken knallt unsanft auf den Boden. Ich zucke zusammen. »Da kannst du ja gleich sagen, du konntest nichts dafür.«
    »Nun, ich denke tatsächlich, man kann nichts dafür, dass man sich verliebt.«
    Meine Mutter lacht, ungewohnt bitter hört sich das an, und ich kriege eine Gänsehaut trotz der warmen Sommerluft.
    Aber Oma redet einfach weiter: »Ich denke, es kommt nicht darauf an, dass man sich verliebt, es kommt darauf an, wie man damit umgeht.«
    »Ach ja?«
    »Ich habe doch von ihm gelassen«, sagt Oma. »Von Henri. Für deinen Vater.«
    »Und du hast es immer bereut.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Nicht? Sei ehrlich, Mutti. Hast du dir nicht gewünscht, du hättest den anderen Mann genommen?«
    Oma braucht eine Weile, bis sie antwortet. »Manchmal vielleicht.«
    Die Worte schweben zu mir herauf, also müssten sie doch federleicht sein. Sind sie aber nicht, sie haben Gewicht. Bleischwer fallen sie zwischen die beiden da unten.
    Ich höre nur noch die Nachtigall.
    Und lasse den Stift fallen. Ein Sprung zum Fenster, ein Blick hinaus. Oma sitzt allein auf der Bank unter dem Apfelbaum.
    Ich weiß, ich muss zu ihr. Aber Mama läuft schon wieder davon. Und weil Papa nicht da ist, muss ich ihr hinterher …
     
    Wir waren im Wald spazieren. Es ist eigentlich mehr ein Wäldchen als ein Wald, aber es gibt dort gerade so viele Bäume, dass man vom Haus nicht mehr gesehen werden kann, wenn man unter ihnen langgeht.
    Mama ging genau da, leicht vorgebeugt und die Arme um sich selbst geschlungen. Ich dachte mir, sie macht das, weil sie dringend in den Arm genommen werden will, aber niemand da ist, der es tut.
    Doch, dachte ich dann. Ich bin ja da. »Mama!«, rief ich und rannte noch schneller.
    Sie blieb sofort stehen, drehte sich um und ließ tatsächlich die Arme sinken, als sie mich kommen sah. Ich habe mich direkt hineingeworfen und Mama fest an mich gedrückt. Sie drückte genauso fest zurück.
    So standen wir eine Weile. Die Sonne schien durch die Bäume. Schräg schon. Mücken tanzten darin. Schön sah das aus. Abendstill. Friedlich. Eigentlich sollte man glücklich sein.
    »Sei nicht böse auf Oma«, murmelte ich in Mamas Schulter. »Warum bist du böse auf Oma? Sie ist ganz traurig.«
    Meine Mutter holte tief Luft. Sie tat das etwas zittrig, sodass es sich verdächtig nach einem Schluchzer anhörte.
    »Ich bin auch traurig«, murmelte sie zurück.
    »Ja, aber warum?« Ich verstand sie wirklich nicht. »Jetzt darf Oma doch in Henri verliebt sein, oder nicht?«
    »Doch«, sagte Mama leise. »Schon.«
    Ich hebe den Kopf. Ihre Nase ist rot, ihre Augen sind rot, aber traurig sind sie zudem auch noch.
    Ich finde, sie sieht aus wie ich. Sie sieht dem verheulten, verquollenen Gesicht ähnlich, das mich aus dem Seeheimspiegel anblickte, nachdem ich mich am Telefon so schrecklich mit meiner Mutter gestritten hatte. Mit ihr.
    Mir war das Herz so schwer. Ob es Mama jetzt auch so geht?
    »Ich mag Henri«, sage ich leise.
    Mama lacht ein Lachen, das klingt wie der kleine Bruder dieses

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