Anna und Anna (German Edition)
bald ausführlich reden, denn in ein paar Tagen bin ich wieder zu Hause.
Leider.
Bis bald,
Ann
Liebe Oma,
mein Steuermann auf allen Weltmeeren,
na, das ist seltsam. Da komme ich nach Hause, endlich, nach all der Zeit auf See – und du bist weg! Einfach so!
Mama sagt, du hattest Sehnsucht nach deinem Haus. Eigentlich sagte sie, nach deinem Zuhause. Ich denke ja, dass der Rosensteg dein Zuhause ist. Oder kann man vielleicht mehrere haben? Dann könnte Jan zum Beispiel in Amsterdam zu Hause sein, bei Helen und James, aber auch bei seinem Vater. Wenn er denn je wieder mit ihm reden würde.
Ich glaube ja, dass du recht hattest. Damals. Als du sagtest, zusammengefasst, dass jede Geschichte zwei Seiten hat und ich Jans Vater nicht verurteilen soll. Ich weiß nicht, warum er sich eine Freundin suchte, obwohl er doch eine Frau hatte. Ich weiß nur, dass Jan seinem Vater bis heute nicht verziehen hat. Und dass das nicht gut sein kann.
Ich fühlte mich ja schon schlecht, als ich im Seeheim für ein paar Tage böse auf Mama war. Länger hätte ich das gar nicht durchgehalten, so schwer machte es mir das Herz. Das kann nicht gesund sein.
Ich weiß allerdings nicht, wie ich Jan das begreiflich machen soll. Im Moment finde ich es sowieso schwierig, mit ihm zu reden.
Darf ich das sagen? Klingt das nicht schrecklich?
Pass auf, ich erkläre dir, woran es liegt: Es ist so, als gäbe es da den Jan, den ich schon immer kannte, der mit mir in die Kastanie kletterte und in der Schule immer neben mir saß. Der wurde abgelöst von dem Jan aus Amsterdam, der so etwas war wie eine ältere Version meines Jans. Der wäre immer noch mit mir in unsere Kastanie geklettert und in seinen Ahorn, hat mich aber stattdessen mit Boot fahren genommen.
Und jetzt gibt es da wieder einen anderen Jan und das ist ein eigentlich völlig fremder Jan, der mich so anschaut, als sähe er mich zum ersten Mal, als wäre ich ein Wunder, das er nicht begreifen kann, der plötzlich ganz stumm wird, als machte ich ihn sprachlos, der manchmal einfach stehen bleibt, mein Gesicht in seine Hände nimmt und mich küsst, so richtig, ja wirklich, auf den Mund. Früher blieb er stehen, um verlorene Münzen und seltsam geformte Steine aufzuheben oder um auszuprobieren, ob man nicht auch den Zaun entlangklettern kann, anstatt den Bürgersteig hinunterzugehen. Früher wusste er, wie man einen Papierdrachen bastelt, aber nicht, wie man ein Mädchen küsst.
Was mache ich nur, Oma? Wie bekomme ich den alten und den neuen Jan zusammengesetzt? Ich weiß es wirklich nicht. Ich befürchte aber, ich muss es herauskriegen. Hast du eine Idee, wie? Sag doch mal, Oma. Bitte! Es eilt! Schreib mir einen Brief, ruf mich an oder komm doch am besten bald wieder nach Hause.
Es wartet sehnsüchtig auf dich,
deine Anna,
gestrandeter Seefahrer
Lieber Henri,
meine Enkeltochter möchte wissen, wie man seinen besten Freund behält, wenn man ihn zur Liebe seines Lebens erklärt. Ich fürchte ja, dass das nicht geht. Was aber sage ich ihr? Du kannst nicht alles haben, mein Herz, finde dich damit ab?
Blödsinn!
Einbeinige Piraten finden sich nicht ab. Sie wünschen, sie begehren. Und sie kämpfen für das, was sie wollen. Dass sie es kriegen, ist damit nicht gesagt. Aber das ist auch gar nicht der Punkt.
Was also werde ich Anna sagen?
»Habe keine Angst!«, vielleicht. »Halte Kurs, lass dich von Untiefen nicht abschrecken. Wenn du jetzt in deinen Jan verliebt bist, genieße es und lerne den neuen Jan kennen. Sollte es schiefgehen, kümmerst du dich hinterher um die Scherben. Vielleicht lassen sie sich wieder zusammenkleben, ja vielleicht entsteht etwas Neues daraus, eine Freundschaft zwischen dir und Jan, die zwar anders ist als vorher, aber nicht schlechter sein muss.
Ich will dich nicht anlügen, es kann natürlich auch sein, dass eine Liebesbeziehung, die schiefgeht, eine Freundschaft zerstört, weil man nie wieder zueinanderfindet. Doch später, wenn du alt bist, wirst du vor allem die Dinge bereuen, die du nicht getan hast, und die Risiken, die du nicht eingegangen bist.«
Und dann werde ich noch hinzufügen: »Nicht jeder hat so ein Glück wie ich und kriegt eine zweite Chance.«
Ja, ungefähr so werde ich es ihr sagen.
Dankbar und ungewohnt bewegt,
Anna
Mein lieber Anna-Schatz,
darf ich dir gratulieren?
Wenn ich alles richtig verstanden habe, gehörst du jetzt zu den Küssenden, und das ist mal eine Gruppe, zu der
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