Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
bei einer Schießbude stehen blieb. Er wollte unbedingt einen Preis gewinnen, so einen riesigen gelben Löwen aus Plüsch. Seine Freundin hatte bald Geburtstag. Also er schoss einige Male, traf aber nichts, obwohl er eigentlich ganz gute Augen hatte und recht treffsicher war. Dann bat er mich, das Glück zu versuchen. Er wollte unbedingt diesen Löwen haben. Mir war es egal. Es war ja nur Spaß. Kaum hatte mir der Besitzer der Bude das Gewehr in die Hand gedrückt, da stand plötzlich ein alter Mann vor mir. Mit seinen weißen Haaren, groß und hager, in einem langen, dunklen Gewand schien er wie einer Märchenverfilmung entsprungen. Er nahm mir die Flinte ab und sagte so etwas dabei wie, ich sollte nicht schießen und erst recht nicht aus diesem Zeug. Ich glaubte ihm nicht, ich dachte, der wäre so ein Spinner, so ein Verrückter oder so. Davon gibt es genug auf solchen Märkten. Aber er ließ nicht locker. Ich sah, dass er absolut klar im Kopf war. Er gab mir das Ding gar nicht zurück und drückte das dem Besitzer der Bude in die Hand.
Der wollte es nicht dabei lassen. Er fing an zu schreien, er würde nicht dulden, dass so ein Unsinn über sein Gewehr hier verbreitet wird. Es wäre ja geschäftsschädigend. Um zu demonstrieren, dass er recht hatte, schoss er selbst daraus. Und das kann ich euch sagen, ging nach hinten los. Er war sofort bewusstlos und fiel wie ein Sack Kartoffeln zu unseren Füßen. Wir waren baff und standen blöde herum. Der Alte aber ließ sofort einen Krankenwagen rufen und fand jemanden, der die Erste Hilfe leisten konnte. Der Kerl blieb bewegungslos auf dem Boden liegen, bis die Rettung kam und ihn abholte. Seine Schießbude stand bis zum Ende des Marktes geschlossen. Man hörte dann später, dass er nur knapp dem Tod entkommen war und noch länger im Krankenhaus bleiben musste.“
Anna und die Schlange hörten ihm wie gebannt zu.
„Nach diesem Fall sahen wir uns recht oft. Er arbeitete auf dem Markt, er hatte einen Stand schräg gegenüber von der Schießbude. Dort verkaufte er Kräuter, Gewürze, Tee, Duftöle und sonst noch welchen Kram von der Sorte. Ich kam bei ihm oft nach der Arbeit vorbei. Ernst machte uns einen heißen Tee, manchmal mit einem Schuss Rum, wenn es draußen besonders kalt und ungemütlich war, und wir redeten eine Runde, so ziemlich über alles. Viel Kundschaft hatte er nicht. Also hatten wir Zeit für unsere Gespräche.“ Ian ließ seinen verträumten Blick in die Ferne schweifen. „Ich erzählte ihm von meinem Job, wie es da so lief. Er hörte mir zu, nickte, lächelte hin und wieder und trank von seinem Tee.
Einmal war ich echt mit den Nerven am Ende und berichtete, was für bekloppte Dinge im Laden am Laufen waren, von meinem bescheuerten Chef, der den Hals nicht voll kriegen konnte und uns alle wieder angeschrien hatte, wir wären Diebe und Schmarotzer. Ich sagte, dass ich keine Ahnung hatte, warum ich es machte und wohin das alles führen sollte, dass ich absolut gar keinen Plan hatte, wie ich diese bescheidene Situation ändern könnte und wenn es immer so weiter ginge, dann wüsste ich gar nicht, warum das Ganze.“ Seine Stimme gab plötzlich nach. Er atmete tief durch, räusperte sich und setzte hinzu: „Und dann sagte Ernst etwas Merkwürdiges zu mir. Jedenfalls etwas, was ich bis dahin noch nie gehört hatte. Er sagte, es wäre eine uralte Weisheit: Es gäbe nichts Schlimmeres als zu vergessen, wer man eigentlich war.“ Ian schwieg und sah in die flackernden Feuerzungen in den Fackeln.
Anna und Scharta musterten ihn fragend.
„Er erzählte mir so etwas wie eine Legende“, fuhr er fort. „Eine alte Geschichte, wie er es sagte, an die sich heutzutage kaum noch jemand erinnerte. Kurz gesagt, es ging um die Sorte von Leuten, die vergessen hatten, wer sie wirklich waren. Und da sie nicht ihr wirkliches Leben führten, wurden sie dazu verdammt, als ewige Diener oder Sklaven ihr Leben zu fristen, die Befehle anderer auszuführen, hart und lange daran zu arbeiten, die Ideen anderer zu verwirklichen. Sie starben recht früh und manche arm wie Kirchenmäuse, ohne ihr eigentliches Leben gelebt zu haben. So in etwa war die Geschichte.
Ich war irritiert, ich konnte mich damit nicht einverstanden erklären. Ich sagte, wenn man etwas nicht wusste, konnte man es nicht vergessen. Ist doch logisch. Man konnte nur etwas vergessen, wovon man wusste oder zumindest eine Ahnung hatte. Und überhaupt, diese Leute hatten ja vielleicht zu Anfang kein Geld, um ihren
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