Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Lichtes.“
„Das ist kaum zu übersehen“, seufzte Anna.
„Dir muss eins klar sein“, wandte sich die Hüterin des Wissens ihr zu. „Es geht nicht darum, den Schatten zu vernichten. Damit wäre der Oberwelt nicht geholfen. Es ist wohl kaum ein Kampf gegen einander. Um das Problem zu lösen, muss man zusehen, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt wird, dass man dem Licht mehr Raum und Kraft gibt. Just bis zu dem Punkt, bis es genauso viel Licht wie Schatten gibt. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn du das im Kopf behältst, wirst du auf dem richtigen Weg bleiben und unterwegs die richtigen Entscheidungen treffen.“
„Die Unterwelt, wie ich sie vor Kurzem erlebt habe, ist ein seltsamer Ort, so düster und deprimierend“, sagte Ian nachdenklich. „Diese Ergebenheit der Diener, die Passivität der Sklaven, selbst die Luft ist mit Trauer und Ausweglosigkeit durchtränkt. Das erschlägt einen förmlich. Die alle dienen der Gier dieser kleinen Frau. Grausam.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte es nicht gekonnt, ich wäre lieber gleich tot.“
„Sag so etwas nicht!“ Anna warf ihm einen besorgten Blick zu. „Keine selbsterfüllenden Prophezeiungen werden hier gebraucht.“
„Die Diener und Sklaven befinden sich in einer Endlosschleife“, sagte Scharta. „Keiner hat eine Chance, ihr je zu entkommen, sobald er sich ihr verkauft hat.“
„Verkauft? Wie meinst du das?“, fragte Ian verdutzt.
Die Schlange legte den Kopf auf einen von ihren unzähligen Reifen, den sie wie eine Stütze hochgestellt hatte, schaute melancholisch in die Runde und sagte: „Ich erzähle dir eine alte Geschichte. Dann verstehst du vielleicht besser, wie es ist.“
Anna und Ian wechselten überraschte Blicke.
Die Hüterin des Wissens schloss die Augen und fing an. „Es gab einmal einen Jungen, der, seinen Begriffen nach, ein kleines Problem hatte. Er wusste nicht, wer er war. Er hatte auch keine Vorstellungen, was er eines Tages werden wollte. Ihm schwebte alles und nichts vor. Seine Eltern, Freunde und Verwandte waren besorgt. Sie empfahlen ihm, sich öfter mal zu fragen, was er im Leben tun wollte. Sie sagten immer wieder, es wäre enorm wichtig, so früh wie möglich darüber im Klaren zu sein, was seine Bestimmung war. Der Junge verstand sie nicht so recht. Er tat lieber gar nichts oder höchstens, was ihm gesagt wurde.
Eines Tages ermunterte ihn seine Mutter an die frische Luft zu gehen und in Ruhe über seine Zukunft nachzudenken. Der Junge tat, was die Mutter sagte. Sein Weg führte ihn durch die bunten Wiesen, durch den Großen Wald zum schönen Smaragdsee. Die Sonne schien, die Vögel erzählten wundersame Geschichten von den Helden der Oberwelt und ihren Taten. Eine leichte Brise ging durch die Baumkronen und flüsterte seine Geheimnisse dem Jungen zu. Er sah aber und hörte das alles nicht. Die Schönheit der Farben, die duftenden Blumen und fröhliches Vogelgezwitscher, alles blieb ihm fern. Er fragte sich, was die Eltern von ihm wollten. Denn er verstand nicht, wieso es so wichtig sein sollte, zu wissen, wer man eigentlich war. Der Junge war so stark in sein Grübeln vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass er nicht mehr allein war.
Eine kleine, fragil aussehende Frau stand plötzlich vor ihm. Sie war in ein langes, schwarzes Kleid gehüllt und etwas Unheimliches ging von ihr aus. Der Junge hielt sie erst für eine Waldfee. Sie rief ihn beim Namen und fragte, wohin sein Weg ihn führte. Der Junge wunderte sich, dass sie wusste, wie er heißt und antwortete, er wäre herausgegangen, um nachzudenken. Die Frau in Schwarz lächelte und fragte, was ihn denn so bedrückte. Der Junge erklärte, er hätte den Auftrag von seiner Mutter erhalten, über seine Bestimmung nachzudenken. Er müsste wissen, wer er wäre, hieß es, er sollte seine Träume finden. Aber die Tatsache war, er hatte keine. Es war nicht so einfach, welche Bestimmte zu haben.
Die Frau in Schwarz fand es lustig. Es war ein Lachen, das man nicht so leicht vergisst: tief und laut, als wenn es von einem Mann käme. Es war schon seltsam, so etwas von einer kleinen, schmalen Frau zu hören. Als sie aufhörte, sagte sie: ‚Wenn du es nicht willst, wenn es dir zu schwer oder zu langweilig ist, dann brauchst du es auch nicht. Du brauchst einfach nichts dergleichen. Komm mit mir. In meinem Reich musst du gar nicht nach so etwas suchen. Keiner wird dich bei mir mit so etwas bedrängen. Ich werde dir sagen, was du zu tun hast. Ich weiß es besser,
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