Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
muss deshalb nicht heißen, dass das, was deine Oma für gut und vernünftig hielt, nicht auch dort ihre Richtigkeit findet.“
Anna blickte ihn etwas skeptisch an.
„Mag sein, dass sie nie die Steppe verlassen hatte“, fuhr er fort, „aber sie war oft in anderen Welten unterwegs. Sie konnte mit guten Geistern reden und die Bösen besänftigen. Es gab oft genug, dass sie die schwer kranken Menschen und Tiere aus dem Reich der Toten holte und sie dann gesund wurden und noch lange lebten. Sie konnte in die Zukunft blicken und sich mit dem Nachkommen verständigen.“ Der Vater nahm einen Schluck Tee. „Jedenfalls, sie sagte es und ich sage es auch. Wenn du Dinge mit dem Herzen siehst, nimmst du sie ganz anders wahr. Sie zeigen sich dir klarer, deutlicher, so wie sie eben sind. Sie bekommen dann für dich eine ganz neue Bedeutung. Und von diesem neuen Blickwinkel aus siehst du ganz andere Wege, die du früher nicht wahrgenommen oder nicht für möglich gehalten hast. Kurz gesagt, wenn du die Dinge von diesem Standpunkt aus betrachtest, siehst du, wie sie eigentlich sind und du weißt auf einmal, wie du sie ändern kannst.“
„Das ist … mir neu“, gab sie zu und blickte ihn verblüfft an. „Alles hätte ich erwartet, aber nicht so etwas …”
Er nickte. Wärme spiegelte sich in seinen Augen. „Ich will dich nicht belehren, ich will dir nicht sagen, was du zu tun hast und wie du zu leben hast. Du bist eine erwachsene Frau und eine gestandene Magierin.“
„Schön wäre es“, seufzte die junge Frau. „Dann hätte ich gewusst, was zu tun ist.“
„Du bist die einzige Enkelin einer großen Schamanin. Das allein hat schon seine Bedeutung“, fuhr der Vater fort, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. „Ich will mit dir eine Beobachtung teilen, etwas, das ich mein Leben lang immer wieder traf und das sich jedes Mal als wahr herausstellte.“
Sie sah ihn fragend an, ihre Augenbrauen zogen sich nach oben.
„Du wirst mir jetzt vielleicht nicht glauben. Jetzt ist es auch nicht nötig. Hauptsache, du denkst daran, wenn du es wirklich brauchst, wenn es denn so weit ist.“
Sie nickte.
Der Vater nahm einen Schluck Tee, sah sie ernst an und sagte: „Es gibt etwas, das alles überdauert und imstande ist, das Unmögliche, ja das Undenkbare in greifbare Wirklichkeit zu verwandeln. In meinem ganzen Leben habe ich keine größere Macht, keine stärkere Kraft gesehen, ob es um die Menschen oder um die Tiere ging.“
Anna blickte ihn verdutzt an. „So was …“, stammelte sie und beugte sich zu dem Hund, der vor ihren Füßen im Schlaf hin und wieder aufheulte. Sie streichelte ihn über den Rücken und sah sie wieder hoch. „Alphira hat mir so etwas nie gesagt.“
Er lächelte. „So, so. Vielleicht liegt da der Hund begraben.“
Sie zuckte mit der Achsel. „Mag sein, dass es um eine ganz andere Kraft geht. Um die, die den Menschen in dieser Welt hilft. Was man aber in der Oberwelt besiegen muss, ist gut möglich etwas ganz anderes. Die Kraft der Grausamen ist gierig, gnadenlos, egoistisch. Sie hat Unmengen davon und bekommt jeden Tag mehr.“ Sie seufzte. „Ich fürchte, sie kriegt, was sie will. Und es gibt nie wieder einen Ort, wo Träume wahr werden.“
Der Vater neigte seinen Kopf zur Seite und fragte leise: „Bist du sicher, dass das, was du im Reich der weißen Schamanin machst, das Richtige für dich ist?“
Anna blickte perplex und sagte voller Inbrunst: „Ich habe das nie bezweifelt. Es ging mir immer gut dort. Besonders in den ersten Jahren, als die Oberwelt noch so schön und recht intakt war. Und jetzt, da es Alphira nicht so gut geht, muss ich für sie da sein und dem Unfug endlich ein Ende setzen. Es geht nicht anders.“
Er trank etwas vom kalt gewordenen Tee und sagte: „Ich bin kein Schamane, aber eins kann ich dir sagen: Deine Arbeit, also deine Aufgabe musst du gerne tun, das muss aus deiner Mitte kommen. Das verleiht deinem Leben Sinn und es gibt dir die Kraft, immer weiter zu machen, auch wenn es mal schwierig ist. Und wenn du siehst, dass das, was du machst, deinen Leuten weiterhilft und dir Zufriedenheit gibt, dann weißt du, dass du das Richtige tust.“
Sie guckte ihn mit großen Augen an. „Oh Vater, das klingt nach dem, was wir bei uns Weisheiten nennen.“
Der kleine Mann lächelte etwas verlegen. „Ich war mein Leben lang draußen in der Steppe. Ich habe mich um die Tiere gekümmert und dafür gesorgt, dass es meiner Familie gut geht. Und es geht uns gut, besser als
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