Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Unwesen. Sie haben die Oberwelt mittlerweile erobert. Keiner geht weiter als ein paar Meter vor die Tür, um nicht zu Beute von diesen abartigen Geschöpfen zu werden. Das Schlimmste finde ich, wenn man den Untoten im Wald begegnet. Seit einiger Zeit wandern sie herum. Stell dir vor, man kennt jemanden aus den früheren guten Zeiten, man hat sich mal öfter mit ihm einen netten Plausch gehalten, man hatte sich gekannt, auch die Familie und so.“ Sie atmete tief durch, bevor sie weitersprach. „Das ist jetzt auch Geschichte geworden. Man unterhält sich nicht mehr. Heutzutage gibt es keine anderen Themen als Tod, Krankheit und Leid. Neulich habe ich jemanden getroffen, den ich von früher kannte. Er war so ein netter fröhlicher Bauer. Er lachte immer so schön, so unbeschwert. Und nun torkelte er mit einer debilen Miene und leeren Augen durch die Gegend.“
„Wie das?“
„Er ist jetzt ein Untoter. Solche wissen nichts mehr von ihrem früheren Leben in der Oberwelt. Sie sind in der Hinsicht förmlich verloren, nur ihre Hülle ist gleich geblieben. Sie wissen nicht, was sie früher getan haben, was ihr Lebensinhalt war, wo sie wohnten, ob sie eine Familie hatten. Und das Schärfste daran ist es, sie brauchen es auch nicht mehr. Denn es gibt nur einen Grund, warum sie noch nicht gänzlich tot sind. Sie sind nur dazu da, einer bestimmen Person zu dienen, ihre Befehle auszuführen, ihr immer zur Verfügung zu stehen, egal, wann und was sie etwas vorhat. Sie befiehlt und sie führen es aus. Schnell und zuverlässig. Dafür brauchen sie keine eigenen Wünsche oder Familien. Ihre Wünsche, von denen die dunkle Herrscherin mehr als genug hat, reichen völlig aus. Meist bleiben die Untoten auch bei ihr, in ihrer Nähe, um ihr jederzeit zur Verfügung zu stehen. Sie verlassen sonst selten die Unterwelt.“ Anna lächelte traurig. „Aber diesen Bauern hat irgendetwas dorthin gezogen, wo früher sein Haus stand, sein Land war. Als wenn er sich über den mächtigen Fluch, der ihm seine Erinnerung an sein früheres Leben ausgelöscht hatte, doch noch hinweg setzen konnte. Dass er nach Hause fand, grenzt an ein Wunder. Mir war, als wenn er sich nach seinem früheren Leben sehnte, als wenn er verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, wer er eigentlich war.“
Kapitel 15. Es war einmal.
„Eine traurige Geschichte.“
„Es gibt in der letzten Zeit leider nicht viel Heiteres zu berichten.“ Die Jungmagierin schnappte ihre warme Strickjacke von der Stuhllehne. „Lass uns losgehen. Nach all den düsteren Geschichten der Vergangenheit muss ich etwas anderes sehen und hören. Ich will dich jemandem vorstellen. Ich habe versprochen, dich zu ihr zu führen, sobald wir da sind.“
Ian blickte verdattert. „Du sagtest, du wolltest nicht mehr raus. Wo geht es jetzt denn plötzlich hin?“
Sie eilte zu einer schmalen Tür zwischen zwei breiten, mit dicken Einbänden beladenen Bücherregalen, die wie die übrige Wand aussah, und drehte sich zu ihm um. „Komm mit, du wirst es sehen. Dorthin zu gehen ist noch recht unproblematisch.“ Die Tür ging mit einem leisen Knarren auf. „Fragt sich, wie lange noch“, murmelte sie leise vor sich.
Er nickte und folgte ihr die schmale Treppe herunter.
Die dicke eiserne Tür, die den Eingang in die kühle Schwärze kennzeichnete, stand offen.
Anna blickte überrascht, sagte aber kein Wort und verschwand im Tunnel.
Er hörte ihre Schritte vorne und lief dem Geräusch nach. „Faszinierend, diese vollkommene Dunkelheit. Hier kann man bestimmt gut nachdenken“, sagte er.
Statt einer Antwort hörte er das Echo eigener Worte und das Hallen der Schritte weiter vorne.
Ian wusste nicht, wie lange er so lief. Auf einmal sah er ein schwaches bläuliches Licht. Bald konnte er erkennen, woher es kam. Es war ein rundes Loch, das in etwa auf seiner Brusthöhe angebracht war. Er hörte Annas aufgeregte Stimme. „Du gehst als Erster rein. Ich komme hinterher.“
Als der junge Mann in die schwach beleuchtete Kammer blickte, sah er eine riesige Schlange, die zusammengerollt vor der Wand gegenüber dem Eingang lag. Zwei Fackeln mit dem bläulichen Feuer in den gusseisernen Haltern steckten über ihr. Er kroch durch den Durchlass, stellte sich daneben und wartete, bis Anna auch die Füße auf dem porösen Boden hatte.
Die Schlange machte langsam die gelben Telleraugen auf und musterte ihn eindringlich vom Kopf bis Fuß.
Die Jungmagierin lief zu ihr, schlang die Arme um den perlmuttschimmernden
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