Anna und das Vermächtnis der Drachen (German Edition)
Bad.
Schweigen.
Sie machte sie auf und spähte hinein. Niemand da. Wo ist er bloß abgeblieben? Sie sah sich im Schlafzimmer um. Keine Kleidung, keine Spur von ihm. Nichts. Seltsam . „Ian!“, rief sie wieder, diesmal etwas lauter. Das kann ja echt nicht angehen. Will er jetzt mit mir Spielchen spielen? Sie sah unter das Bett. Nur die Dunkelheit und blanke Bodenbretter blickten ihr entgegen. Anna richtete sich wieder auf und sah verzweifelt auf das leere Bett. Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich, versuchte seine Gedanken aufzuspüren. Keine Chance. Es kann nicht sein, dass er an rein gar nichts denkt . Irgendetwas schwirrt bei ihm immer im Kopf, es sei ... Sie schnappte nach Luft. Ich muss zur Scharta . Hauptsache sie ist da.
Ian kam zu sich. Bittere Kälte kroch ihm in die Knochen. Er setzte sich auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Es war eine kleine, feuchte Kammer ohne Fenster, die Wände hier und dort von einer Schicht Moos überzogen, die eiserne Tür rostig. Ein aus Ziegelsteinen gelegtes Rechteck ragte wie ein Podest mitten in der Kammer empor, etwa einen Meter hoch über dem Boden aus großen, grob geschliffenen Steinen. Wozu soll es gut sein? Warum ist es hier? Es sieht wie ein Postament aus. Die Figur, die darauf gehört, ist aber nicht da.
Etwas Feuchtes fiel ihm auf den Kopf. Er schaute hoch. Mehrere dicke Wassertropfen klebten an der Decke, die nicht anders als der Boden aussah, und drohten auf ihn zu plumpsen. Andere sammelten sich in dünne Rinnsale, liefen die Wände hinunter und versickerten in den Ritzen. Ian stand auf und lief zur Tür und zurück. Seine Schritte gaben stumpfes Geräusch ab. Warum sperrt sie mich in dieser Kammer ein? Hat sie Angst, dass ich weglaufe? Da hätte ich aber gerne gewusst, wie das geht. Schon komisch, dass sie mich hier geparkt hat. Sie wollte doch mit mir ihre Reichtümer teilen, mich zu ihrer rechten Hand machen. Etwas stinkt an dieser ganzen Sache. Und zwar ganz gewaltig.
Er spürte auf einmal die anrollende Übelkeit. Seine Knie wurden weich. Er sank auf den Boden und lehnte den Rücken an die kalten Steine des Postaments. Sein Kopf drehte sich, stumpfer Schmerz hämmerte von innen auf die Augen, die Stirn und den Hinterkopf. Eine Fülle von Bildern und Geräuschen drang in sein Bewusstsein. Es war, als ob jemand Dutzende von Filmen gleichzeitig, in unerträglicher Lautstärke und Farbintensität mit einer Hochgeschwindigkeit in seinen Kopf pumpte. Er schloss die Augen und fasste sich fest an den Schläfen. Die Flut ließ sich aber nicht aufhalten. Sie überwiegte mit ihrer Wuchtigkeit sein Körpergewicht. Er fiel, seine Hand prallte auf den rauen Stein, die Haut platzte auf, das Blut trat aus. Die Wunden brannten.
Den Schmerz nahm er nur bedingt, wie durch einen dicken Schleier wahr. Unzählige Bilder liefen vor seinem inneren Auge ab. Dann wurden sie langsamer und fügten sich zu einem Film zusammen. Er sah auf einmal, dass er auf einem Thron, ähnlich dem der kleinen Frau, in einem dunklen weitläufigen Saal saß. Sein schwarzes Gewand, mit Unmengen von funkelnden Edelsteinen verziert, war schwer und drückte ihn mit seinem Gewicht fest an den breiten, samtenen Sitz. Mit einem erhobenen Haupt, dem Blick von oben herab beäugte er das Geschehen.
Eine schwere Tür in der hinteren Ecke des Saals ging auf und zwei mit langen Schwertern bewaffnete Wächter traten ein. Sie ähnelten den Gestalten, die er bei der dunklen Herrscherin gesehen hatte, bloß diese trugen auf den breiten Schultern die schwarzen Stierköpfe ohne Hörner. Sie schleiften jemanden über den Boden. Vor dem Thron angelangt, schmissen sie den Gefangenen vor seine Füße. Ian sah genauer hin. Es war ein Faun. Sein dunkelgraues Fell hing zottelig vom bis zu den Knochen abgemagerten Beinen. Große Fetzen an mehreren Stellen herausgerissen, ließen sie einen freien Blick auf die klaffenden Wunden: manche waren frisch, manche mit getrocknetem Blut, Dreck und Eiter zugeklebt. Von ihm ging ein starker Geruch des ungewaschenen Körpers aus. Der Schwarze Prinz deutete den Wächtern mit einer knappen Handbewegung an, dass der Faun vor ihm stehen sollte. Sie zogen ihn hoch und ließen los. Er sank sogleich mit einem Aufstöhnen auf den Boden. Seine Beine waren an mehreren Stellen gebrochen.
„Kopf ab“, hörte sich Ian ausrufen. Und der Kopf des Fauns rollte sofort zu seinen Füßen. Eine dunkle Blutlache bildete sich auf dem
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