Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
ihre Atmung. Morgen erfahren wir mehr.“
Dr. Patani verabschiedete sich und ließ uns von einem Pfleger zu Annabells Zimmer bringen. Der Raum war geräumig, aber von Grund auf unbehaglich. Die kahlen Wände strahlten im grellen Licht der Neonbeleuchtung matt beige. Die dunkelbraunen Vorhänge hatten schon bessere Tage gesehen und kontrastierten aufs Vortrefflichste mit dem hellen Grau des Linoleumfußbodens. Die Besucherstühle vereinten silbriges Metall mit abgenutztem grünem Kunstleder. Alles in allem ein Ort zum Krankwerden, nicht zur Genesung.
Während bei Annabell ein Tropf gelegt und sie mit dem Gerät zur Atemüberwachung verbunden wurde, hatte ich Zeit, auf den Balkon hinauszutreten, um für einen Augenblick in Ruhe durchzuatmen. Der Balkon blickte auf einen großen Parkplatz, auf dem eine spärliche Anzahl einsamer Autos, auf ihre Besitzer wartete. Auf der linken Seite zeigten sich die zwielichtigen Ausläufer der Morgendämmerung. Das Zimmer musste in Richtung Süden liegen. Ich stand eine Weile da und dachte nach. Über die letzten Tage. Die heutige Nacht. Die Termine in Boston, die mich am Vormittag erwarteten.
Der Schrei eines Nachtvogels riss mich aus meinen Gedanken. Auf schwarzen Schwingen erhob er sich über mir in die Luft und flog in die Bäume jenseits der zubetonierten Fläche. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in mir aus, eine dunkle Vorahnung, und ich fröstelte. Die Nacht war kühl und ich ging in das Zimmer zurück, als der Pfleger im Hinausgehen die Tür hinter sich schloss.
Annabell sah verloren aus, in dem großen Krankenhausbett mit dem Tropf am Arm, mit den Kabeln und den unheimlich blinkenden Geräten neben sich. Ich zog den einzigen Stuhl mit hoher Lehne neben das Bett, machte es mir darauf so bequem es eben ging und löschte das Licht.
„Meinst Du, ich werde bald wieder gesund?“, fragte Annabell verzagt, nachdem ich ihr einen Gutenacht-Kuss gegeben hatte – den Zweiten in dieser Nacht.
„Ganz bestimmt, mein Liebling. Eine Lungenentzündung ist schon etwas Ernsteres als eine gewöhnliche Erkältung, aber auch nichts Lebensbedrohliches. Für die Leute hier ist das Routine. Ich vermute, Du bist nach spätestens einer Woche wieder zu Hause.“
In diesem Punkt sollte ich mich allerdings leider irren.
58. Kapitel
Die Sonne schien hell durch einen Spalt in den Vorhängen, als ich um 7.25 Uhr aufwachte, weil eine Schwester das Zimmer betrat.
„Guten Morgen. Zeit zum Aufwachen“, trällerte sie und ein angenehm-floraler Duft von Veilchen und Lavendel wehte mir entgegen, als sie mit forschem Schritt zu den Fenstern ging und die Vorhänge beiseiteschob.
Annabell kam langsam zu sich, und mir fielen zwei Dinge auf: Erstens hatte ich Annabell in der Nacht nicht gehört und zweitens hatte ich auf dem unbequemen Stuhl völlig verrenkt durchgeschlafen. Letzteres rächte sich nun, den ich konnte mich kaum aufrichten und noch weniger den Kopf drehen, als ich ein zerknittertes „Guten Morgen“ zwischen den Zähnen hervorpresste.
„Na, ich sehe, unsere Patientin wird auch langsam wach“, sagte die Schwester munter. „Du musst Annabell sein. Ich bin Schwester Joyce und ich werde mich hier um Dich kümmern. Und Sie sind Annabells Vater?“
Ouch! Tiefschlag. Schon wieder.
„Bruder. Ethan Meyers“, ich stand mühsam auf und betrachtete sie näher. Joyce DeLaney stand auf ihrem Schild. Sie mochte etwa Mitte zwanzig sein, hatte eine angenehm weibliche Figur, dunkelblondes, schulterlanges Haar und ein herzliches Gesicht mit großen blauen Augen. Ich hatte auf Anhieb Zutrauen zu ihr und war mich sicher, dass sie sich nach besten Kräften bemühen würde, Annabell gesund zu machen.
Sie plauderte kurz mit uns, prüfte die Anzeigen der Geräte neben dem Bett und war schon wieder auf dem Weg nach draußen. Ich folgte ihr auf den Flur und hielt sie zurück:
„Schwester Joyce? Hier ist meine Karte mit der Nummer meines Büros. Wenn es irgendetwas Wichtiges gibt, rufen Sie mich bitte an, ja?“
„Selbstverständlich, Mr. Meyers“, antwortete sie und lächelte. „Wie lieb von Ihnen, dass Sie sich so um Ihre kleine Schwester sorgen.“
„Ich bin nicht nur ihr Bruder. Ich bin auch ihr Vormund“ – und noch einiges mehr, setzte ich in Gedanken hinzu. “Ihre Eltern sind vor ein paar Jahren verstorben. Sie ist meine Halbschwester.“
„Machen Sie sich keine Sorgen. Bei uns ist sie in guten Händen.“
„Davon bin ich überzeugt.“
Ich zog mein Portemonnaie
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