Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
ihre Schwester die Sache gut übersteht.“
„Da fällt mir ein Stein vom Herzen. Als sie gestern Nacht diesen Erstickungsanfall hatte …“
„Das sollte nicht wieder vorkommen. Wir verabreichen ein hochwirksames schleimlösendes Medikament und überwachen laufend ihre Atmung.“
„Wann, glauben Sie, hat sie die Sache überstanden?“
„Ich denke, gegen Ende der Woche ist sie aus dem Gröbsten heraus. Bis dahin halte ich Sie auf dem Laufenden.“
Ich dankte ihm und machte mich auf den Weg zu Annabell.
Das Zimmer hatte sich über den Tag hinweg grundlegend verwandelt. Es machte einen beinahe fröhlichen Eindruck. Cathy und Jen hatten bunte Luftballons mit der Aufschrift „Gute Besserung“ besorgt, die an einem Tischbein befestigt im Raum schwebten. Auf dem Tisch und auf dem Nachttisch standen Blumensträuße von Reverend McCandle und von der Belegschaft der Kinderstation. Annabell hatte auch eine Auswahl an Büchern und Zeitschriften bekommen. Ich selbst hatte ihr einen riesigen Strauß rosaner und weißer Rosen und eine graue Plüschmaus mit blauem Halstuch mitgebracht, die Annabell sofort in ihre Arme schloss.
Ich war beeindruckt von all diesen Zeichen der Aufmerksamkeit und Anteilnahme und gönnte sie Annabell von Herzen, kam aber nicht umhin, mich zu fragen, wie es mir bis vor Kurzem an Annabells Stelle ergangen wäre. Ich hatte begründete Zweifel, dass Craig, Zach oder Steve mich am ersten Tag besucht hätten. Vermutlich hätte ich mich schon glücklich schätzen können, wenn sie zumindest dann vorbei gekommen wären, wenn man eine tödliche Diagnose gestellt hatte. Sicher, die Kanzlei hätte einen Blumengruß geschickt, aber das wäre auch alles gewesen.
Ich blieb für zwei Stunden bei Annabell. Wir tranken Tee aus der Teeküche auf dem Gang und sahen uns Fernsehserien an. Beim Abschied flossen Annabell Tränen über die Wangen. Seit wir zusammen waren, würde es die erste Nacht werden, die wir getrennt verbrachten.
Auch mir kam das Haus in South Port sehr einsam und fremd vor ohne Annabell. Viel weniger wie ein Zuhause. Vor dem Schlafengehen stand ich draußen auf dem Balkon vor dem Schlafzimmer, um frische Luft zu atmen. Der Mond hing traurig über der Bucht und sein fahles Licht brach sich müde auf den Wellen. Ich musste daran denken, wie viel schöner mein Leben geworden war, seit ich meinen kleinen Liebling kannte und wie es wäre, ohne ihn leben zu müssen. Es war ein furchtbarer Gedanke und ich wollte ihn verscheuchen, aber wann immer ich mich anderen Dingen zuwandte, schlich er sich unaufhaltsam zurück in mein Bewusstsein. Ich lag lange wach an diesem Abend in dem großen Bett und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.
59. Kapitel
Die Woche verging wie im Flug. Morgens besuchte ich Annabell, dann hetzte ich ins Büro und versuchte, in der kurzen Zeit alles zu erledigen, was erledigt werden musste. Zu meiner stetig wachsenden Frustration schlugen diese Versuche fehl. Unerledigte Akten blieben auf meinem Schreibtisch liegen und Margery und Harriet mussten zum Ärger der übrigen Beteiligten immer wieder Termine verlegen und um die Verlängerung von Fristen ersuchen. Kurzum: Ich schob die Arbeit vor mir her. Abends ging es zurück ins Krankenhaus, dann für eine viel zu kurze Nacht nach South Port. Immer wieder spielte ich mit dem Gedanken, über Nacht in Boston zu bleiben, brachte es aber nicht übers Herz, auf einen Besuch bei Annabell zu verzichten. Sie fehlte mir.
Annabell bekam von all dem wenig mit. Sie wurde von Schwester Joyce und den anderen Schwestern gut versorgt und bekam oft Besuch von Freunden aus South Port, dem Reverend, Kindern von der Station, die sie kannten. Auch der Richter verirrte sich nach Plymouth. Das Fieber ging mit der Zeit marginal zurück und stabilisierte sich im Bereich von 38 Grad. Die Bakterien schienen sich hartnäckig zu halten, denn eine erkennbare Besserung trat nicht ein. Im Gegenteil: Annabell bekam zunehmend weniger Luft.
Dr. Mercer war mit der Entwicklung überhaupt nicht zufrieden. Er hatte damit gerechnet, Annabell bald entlassen zu können, aber danach sah es nicht aus. Am Freitagvormittag ließ er erneut eine Computertomographie der Lunge erstellen. Nachmittags rief er mich an und berichtete über das Ergebnis:
„Ich will offen sein, Mr. Meyers. Das CT zeigt innerhalb wie außerhalb des entzündeten Gewebes Strukturen, mit denen wir im Augenblick noch nichts Rechtes anfangen können. Zudem leidet Ihre Schwester an
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