Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
mir einen Tee und reichte mir etwas Salzgebäck, das ich gierig in mich hinein schlang. Ich hatte seit dem Mittag nichts gegessen und, obwohl mir immer noch übel war, einen Bärenhunger.
Ich erzählte ihm meine Geschichte in wirren, unzusammenhängenden Worten, schaffte es aber, ihm die Lage im Groben deutlich zu machen.
McCandle schüttelte den Kopf und fragte: „Aber Ethan, warum sind Sie denn nicht sofort zu mir gekommen? Ihre schöne Uhr. Zu diesem Preis. Wir müssen zusehen, dass wir sie schnellstmöglich zurückbekommen.“
Ja, warum war ich nicht zu ihm gegangen? Wäre es das Naheliegendste gewesen? Er hatte Geld ohne Ende. Es war ein Leichtes für ihn, mir zu helfen. Doch aus irgendeinem Grund hatte ich mich gescheut, zu ihm zu gehen. Er hatte schon so viel für Annabell getan. Ich wollte ihm nicht noch mehr verpflichtet sein. Noch vor einer Weile hatte ihm in diesem Zimmer klar machen wollen, dass wir auf seine Hilfe nicht angewiesen waren. Außerdem war ich davon überzeugt, dass er insgeheim meine Beziehung zu Annabell missbilligte.
„Ich weiß es nicht, Reverend. Vielleicht wusste ich nicht, ob es Ihnen Recht wäre.“
„Ob es mir Recht wäre? Ethan, ich bin Ihr Freund. Selbstverständlich helfe ich Ihnen.“
Was er sagte, war zutiefst aufrichtig gemeint.
„Ich bereite Ihnen jetzt das Gästebett vor, sie nehmen ein Duschbad und schlafen sich erst einmal aus. Morgen früh sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Wir sehen uns an, was Sie wem schulden. Ich werde die Beträge ausgleichen.“
Mir fehlte die Energie, ihm zu widersprechen also sagte ich einfach: „Danke, Reverend. Ich bin Ihnen wirklich dankbar. Aber ich stelle eine Bedingung.“
„Und die wäre?“
„Sie geben mir das Geld als Darlehen. Es wird angemessen verzinst und, sobald ich wieder einen Job habe, zahle ich es Ihnen zurück.“
„Das kann ich nicht akzeptieren.“ Er sah mich unnachgiebig an. „Ich werde keine Zinsen von Ihnen nehmen. Das mit dem Darlehen geht in Ordnung, wenn Sie darauf bestehen.“
„Einverstanden. Sie sind ein harter Verhandlungspartner.“
„Selbstverständlich. Haben Sie etwas anderes erwartet?“
Und so war am Ende eines niederschmetternden Tages meine Kreditwürdigkeit wieder hergestellt.
72. Kapitel
Am nächsten Morgen fuhr ich mit McCandles Wagen zum Krankenhaus, um Annabell von meinen Erlebnissen zu erzählen: Der bemitleidenswerte Fall des Ethan Meyers – eine Tragödie in fünf Akten. Meine Stimmung war mies. Ich badete weiterhin in Selbstmitleid. Wer war ich denn noch? Ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne Geld. Ein Niemand. Ich stand nicht mehr auf meinen eigenen Füßen, war abhängig von McCandles Mildtätigkeit, war vor all meinen Freunden der Lächerlichkeit preisgegeben. Wie hatte ich übersehen können, was es bedeutete, Lawrence Hawthorne die Stirn zu bieten?
Ein wenig Licht schien in meine Dunkelheit, als ich sah, wie Annabell sich darüber freute, dass ich sie besuchte. Sie hatte mich am Abend zuvor vermisst und sich Sorgen um mich gemacht. Glücklicherweise war McCandle so umsichtig gewesen, sie zu informieren, dass ich bei ihm war.
„Ich habe alles verloren“, schloss ich meinen Bericht.
„Hast Du das wirklich? Ich meine, brauchst Du eine Wohnung in Boston, einen Porsche, diese Uhr? Ich hatte gehofft, wir würden zusammen in South Port wohnen.“
‚Natürlich brauche ich die Sachen‘, wollte ich antworten. ‚Sie sind Teil meiner Identität. Sie legen meinen Rang in der gesellschaftlichen Hackordnung, meinen Platz im Rudel fest. Damit machen sie mich zu dem, der ich bin.
Doch wenn ich so darüber nachdachte …
„Die Wohnung brauche ich tatsächlich nicht mehr. Das stimmt schon. Du gehst hier zur Schule und da ist es klar, dass wir in South Port wohnen. Das Haus Deiner Großmutter ist wunderbar. Es müsste einmal renoviert werden, aber im Grunde … Wo findet man schon etwas in so einer Lage. Und das Auto und die Uhr? Ich brauche sie nicht unbedingt.“
Annabell lächelte, so als wolle sie sagen „Gut, dass Du es selbst einsiehst“.
„Ich habe Dich. Das reicht eigentlich und ist mehr als ich verlangen sollte. Als Du noch krank warst, hätte ich liebend gern alles, was ich hatte, hingegeben, damit Du gesund wirst.“
„Und Du hast Freunde hier in South Port. Echte Freunde, wie den Reverend. Zugegeben, er ist nicht gerade in unserem Alter oder besser: In Deinem Alter …“
„Vielen Dank!“
Sie lachte. „… aber es gibt hier
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