Annas Erbe
der Dachrinne der Friedhofskapelle rann das Wasser in einem dünnen Strahl und plätscherte auf den Asphalt. Das lauteste Geräusch weit und breit. Die Tür zur Kapelle war verschlossen. Thann wartete draußen.
Zuerst kam der Sarg. Die sechs Teile der Leiche Günther Eichs, verpackt in einer Holzkiste. Vier Männer in Schwarz mit schneeweißen Handschuhen schoben den Sarg durch die Tür, gefolgt von einem Pfarrer und der kleinen, gebeugten Mutter des Toten. Der Sohn hatte ihr zu Lebzeiten nur wenig Freude bereitet, ihr Gesicht zeigte keine Anzeichen von Trauer.
Dann kam Klaus Beckmann, der Professor und einzige Freund, der Eich nach 25 Jahren Haft geblieben war. Zuletzt trat eine Frau aus der Kapelle. Es war Eva.
Thann folgte der kleinen Trauergemeinde, die schweigend an den Gräberreihen vorbeizog. Sein Herz klopfte. Eva hatte er hier nicht erwartet.
Der Wagen, auf dem der Sarg lag, begann hässlich zu quietschen, als der Asphaltweg bergauf führte. Auf halber Höhe verließ der Zug den Weg und bewegte sich zwischen Grabsteinen und Kreuzen auf eine Lücke zu. Thann erinnerte sich, dass ein Grab aus Platzmangel nach zwanzig Jahren gekündigt wurde. Der Sarg hatte sich bis dahin aufgelöst, der Tote war verwest. Ein neues Loch konnte ausgehoben werden. Nur einige Knochen erinnerten noch an den Vorbesitzer.
Thann hielt einige Gräberreihen Abstand und beobachtete, wie die vier Totengräber den Sarg vom Wagengestell nahmen und im Loch versenkten. Er wollte den Mann zur Rede stellen, von dem er annahm, er sei der wahre Mörder seiner Freundin.
Nacheinander warfen die drei Trauergäste etwas Erde auf den Sarg. Eine stille Geste des Abschieds. Die alte Mutter dankte dem Pfarrer mit einem kurzen Händeschütteln.
Günther Eich, vor nicht einmal zwei Wochen aus der Haft entlassen, die sein halbes Leben gedauert hatte, lag nun in seinem letzten Gefängnis, einen Meter und siebzig Zentimeter tief, den unerbittlichen, letzten Mächten ausgeliefert: der Fäulnis, der Verwesung und dem Vergessen. Gefoltert, bevor er ermordet wurde.
Als Eva und Beckmann den Parkplatz betraten, sprach Thann sie an. Beide hatten es eilig. Beckmann war auf dem Sprung nach Mailand zu einem Kongress. Sein Koffer lag gepackt im Wagen, das Flugzeug ging in einer Stunde. Eva musste dringend zurück in die Kanzlei. Thann fragte, ob er sie nach Dienstschluss treffen könne. Sie willigte ein. Ihre Samtstimme ließ Thanns Puls schneller gehen.
Beckmann hatte unterdessen seine Wagentür aufgeschlossen. »Was machen die Ermittlungen, Herr Kommissar? Schon was rausgekriegt?«
»Ja und nein. Wir haben weder Mörder noch Einbrecher, aber ich bekomme allmählich eine Vorstellung, wie die Stadt vor 25 Jahren aussah. Ich habe eine Frage an Sie. Sie haben noch genügend Zeit nachzudenken und zu antworten, bevor Sie zum Flieger müssen. Es geht um ein Fotoalbum. Eine Art Familienalbum Anna Korfmachers oder ihrer Kinder. Können Sie sich daran erinnern, dass Anna so etwas hatte? Erwähnte Eich ein solches Album Ihnen gegenüber?«
Fotos und Aufzeichnungen aus der Zeit von Annas Ermordung. Thann sah dem Kleinwagen nach, mit dem Eva den Parkplatz in Richtung Innenstadt verließ.
Beckmann legte die Professorenstirn in Denkerfalten. »Ein Familienalbum? Hat das mit dem Mord zu tun?«
»Vielleicht.«
»Nein, ist mir kein Begriff. Sicher, Günther war auf der Suche nach irgendetwas. Ich habe mich aber nicht darum gekümmert, weil ich nicht an den Nutzen dieser Vergangenheitsbewältigung glaubte. Ich wollte, dass er sich um seine Zukunft kümmerte. Und er sprach nicht über alles, was ihn bewegte. Tut mir leid.«
27.
Goethestraße, Nummer 32. Zum dritten Mal ließ sich Thann Eichs Wohnung aufsperren. Zum letzten Mal, bevor irgendein Trödelhändler die Hinterlassenschaft des unglücklichen Mieters plündern würde. Der Erlös würde an den Vermieter gehen, die Wohnung weiter vermietet werden an neue Bewohner, die vielleicht nie vom Schicksal ihres Vorgängers erfahren würden.
Thann hatte Mühe, den Hausmeister abzuwimmeln, der begierig war, der Polizei bei der Ermittlung eines Mörders beizuwohnen. Als Thann endlich allein war, nahm er sich die privaten Dinge Eichs vor. Viel gab es nicht. Eich benutzte Elektrorasierer und billiges Aftershave, trug nachts Schlafanzüge und besaß nur wenig an Kleidung. Da er weder Mantel noch Winterjacke fand, vermutete Thann, dass Eich die Wohnung verlassen hatte und außerhalb ermordet worden war.
Es gab
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