Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
verstehen, daß sich eine tiefe und breite Kluft zwischen den Ehegatten zu bilden begann.
Das war auch etwas Neues für Anne. Sie war es so ganz und gar gewohnt, daß eine Ehe eben eine Ehe war - vielleicht grau, vielleicht alltäglich, aber dennoch eine unauflösliche Einheit, in der zwei Menschen die Bürde gemeinsam trugen. Früher hatte sie nie darüber nachgedacht. Aber jetzt schweiften die Gedanken bisweilen zu Liv und Tore, zu Björg und ihrem Manne, zum Pastor und seiner Frau, zum Amtmann und den anderen, die sie zu Hause kannte. Ruhige, schlichte Menschen, die zusammengehörten, zusammen arbeiteten und zusammen Kinder hatten und die sich zusammen der Kinder annahmen.
Genauso war es auch bei ihren eigenen Eltern gewesen.
Weil Frau Aspedal ihr leid tat, sah sie ihr viele Unfreundlichkeiten nach und schluckte manche bittere kleine Pille, ohne zu mucksen. Und sie tat alles, was sie konnte, um Frau Aspedal den Alltag leichter zu machen. Das aber rächte sich an den Schulaufgaben und am Schlaf. Sie wachte morgens oft mit Kopfweh auf und hatte das heiße Verlangen, einmal vierundzwanzig Stunden hintereinander schlafen zu dürfen. Lange saß sie abends über der Lektüre, über Aufsätzen und Mathematikaufgaben. Der Gedanke, zum nächsten Jahr eine Freistelle in der Schule zu bekommen, hatte sich in ihrem Kopfe festgesetzt. Sie wußte, daß sie deshalb nicht nachlassen durfte. Denn sie mußte gute Zeugnisse vorlegen können.
Jess war es, der eines Tages zu ihr sagte, sie müsse sich jetzt zusammennehmen und ordentlich essen. Und er war es auch, der ihr ganz selbstverständlich und sachlich eine Flasche Lebertran schenkte mit dem Befehl, jeden Tag einen Löffel voll zu nehmen. Anne schnitt grausige Grimassen und spürte ein ekelhaftes Gefühl im Magen, aber sie war gehorsam, und der Lebertran wurde getrunken.
Mitten in alle ihre Widrigkeiten hinein platzte eines Tages ein Anruf von der »Modellstrickerei«. Es handelte sich um ein paar Kinder Jacken, leicht zu stricken, Rücken und Ärmel glatt, nur die Vorderteile gemustert.
Anne sagte zu. Sie brauchte Geld. Was sie für Frau Mortensens Jacke erhalten hatte, das war verbraucht.
Aber leicht war es wirklich nicht, diese Strickereien von der Hand zu bekommen. Am besten ging es, wenn Aspedals abends aus waren. Da brachte sie die Kinder ins Bett und saß hernach im Wohnzimmer, strickte und lernte, und dann zog Friede in sie ein. Und gerade der Friede war es, dessen sie so sehr bedurfte. Das ewige Gehetze, das Gefühl, daß die unverrichtete Arbeit sich häufte, zerrte mehr an ihr als irgend etwas anderes.
Sie nahm das Strickzeug mit in die Schule und strickte in den Pausen. Da bekam sie einmal eine Erleuchtung.
Und sie eilte zu Studienrat Bru und fragte ihn geradeheraus, ob sie wohl in den Unterrichtsstunden stricken dürfe.
»Was für ein Einfall!« sagte Herr Bru entsetzt. »In den Stunden sollst du dich auf den Unterricht konzentrieren, Anne! Ist es die Osterausstattung, mit der du solche Eile hast?«
»Nein«, sagte Anne, und ihrer Gewohnheit treu gab sie ehrlich zu: »Ich habe eine Bestellung auf Strickarbeiten. Die Sache eilt. Darf ich nicht versuchen? Wenn Sie ein einziges Mal merken, daß ich unaufmerksam bin, dann werde ich die Arbeit fortlegen.«
Studienrat Bru betrachtete das blasse, angestrengte Gesicht. »Gut. Versuche es«, sagte er nur.
Am nächsten Tag wandte er sich nach der Stunde wieder an Anne: »Ich habe dir doch erlaubt, in den Stunden zu stricken, Anne. Also fang nur an!«
Anne lachte: »Das habe ich doch gestern und heute schon immer getan!«
»Unmöglich«, rief Herr Bru. »Ich habe doch mehrmals zu dir hingeschaut! Du hattest die Augen immer fest auf mich oder auf das Buch geheftet.«
»Ja«, sagte Anne. »Ich brauche nur eine Seite rechts und eine Seite links zu stricken, und ohne Muster. Dann ist es nicht nötig, auf das Strickzeug zu schauen. Das habe ich unterm Tisch machen können.«
»Anne, Anne!« sagte Studienrat Bru nur.
Für Anne war es wahrhaftig ein Lichtblick, als sie erfuhr, daß Aspedals Ostern verreisen wollten. Sie erzählte es am selben Abend noch den Daells.
»Aber hör mal, Anne«, sagte der Kapellmeister, der gerade nach Hause gekommen war und seine Hausjacke übergezogen hatte.
»Ostern wird nichts aus dem Stricken, ist dir das klar? Einen Tag vor Palmsonntag fährst du mit meiner Frau und Jess zusammen ins Gebirge. Einladung vom Unterzeichneten. Ich selbst muß in der Stadt bleiben, die Kunst geht allem
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