Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Ausflügen und Gebirgsfahrten. Da blieb er auf Möwenfjord.
Anne war gut Freund mit ihren Skiern, wie sie gut Freund mit der Geige war. Heute war sie übrigens mit der ganzen Welt gut Freund. Sie wechselten nicht viele Worte, vom Wetter und vom Weg, den sie einschlagen wollten.
Jess schritt vorauf. Anne folgte ihm. Sie betrachtete seinen geraden Rücken, den schmalen Nacken. Sie dachte nicht, grübelte über nichts nach. Sie spürte nur eine tiefe Freude in sich, weil Sonne und Schnee um sie waren, und weil Jess vor ihr in der Skispur ging.
Gestern hatten Skirennen für die Hotelgäste stattgefunden. Anne und Jess waren die eifrigsten unter den Zuschauern gewesen und hatten voller Bewunderung die schlanken, durchtrainierten Körper der Fahrer beobachtet, die die Serpentinen der Slalombahn mit einer so überlegenen Sicherheit nehmen konnten.
» Wart nur, Anne«, hatte Jess sie getröstet, »wenn wir beide erst einmal mit der Schule und der Musik und der Hausarbeit und dem Stricken fertig sind, dann sollst du mal sehen, wie wir ins Training gehen werden. Es wird nicht einen Schwung geben, den wir nicht zustande bringen!« Und Jess hatte seinen Skistock geschwungen und einem der jungen Mädchen, mit denen er am Abend vorher getanzt hatte, etwas Ermunterndes zugerufen. Die war jetzt in messerscharfen Zickzackschwüngen durch die Tore gesaust, ein schlankes kleines Bündel von stählernen Muskeln. Aber was machte das Anne aus? Sie und Jess waren es, die auf gleichem Fuße miteinander standen, sie beide gehörten zusammen. Und heute hatten sie die Weiten für sich allein.
Sie stapften mühselig einen Hang hinauf. Die Sonne brannte. Jess blieb stehen und zog die Skijacke aus. Anne öffnete die ihre und auch die Hemdbluse am Hals und steckte die Kappe in die Tasche. In ihrem Haar funkelte die Sonne.
»Wir machen jetzt mal Rast«, sagte Jess, als sie den Kamm erreicht hatten. Im Schutze eines großen Felsblocks packten sie ihre Butterbrote aus. Sie setzten sich schweigend nebeneinander hin, die Gesichter der Sonne zugekehrt.
Endlich brach Jess das Schweigen. »Du, Anne.«
»Ja?«
»Bist du nicht stolz auf dein wunderschönes Land?« Anne ließ den Blick über die Bergspitzen schweifen, die in der Sonne glitzerten, soweit das Auge reichte. Ihr war das Gebirge vertraut. Jeden einzigen Tag in ihrem ganzen Leben hatte sie die Berge vor Augen gehabt. Aber in diesem Augenblick sah sie sie mit anderen Augen. Mit Jess’ Augen. Die Schönheit des Gebirges, die bislang etwas Selbstverständliches für sie gewesen war, wurde ihr plötzlich bewußt und überwältigte sie.
Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete: »Nein, Jess. Nicht stolz. Nur - nur dankbar, weil ich dazugehöre.« Abermals war eine Pause. Jess brach sie von neuem ab. »Ja. Das kann ich verstehen.« Anne fühlte seinen Arm hinter ihrem Nacken. »Anne«, sagte er langsam. »Heute fühle ich es so, daß ich dir etwas sagen muß. Ich weiß nur nicht, wie ich anfangen soll. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, was ich dir sagen möchte.«
»Wir kommen aus zwei verschiedenen Welten, Anne. Du besitzt etwas, was ich nicht kenne. Du gehörst zu Norwegen, zu Norwegens Bergland, und du hast ein Recht, stolz darauf zu sein. Wir Daells aber - wir besitzen keine Tradition außer der, die wir selbst uns geschaffen haben. Wir gehören zum fahrenden Volk’, Anne. Ich weiß nichts über meine Zukunft. Siehst du, deine Brüder wissen, was aus ihnen wird, dieses Wissen ist ihnen sozusagen angeboren. Bei uns ist alles unsicher.« Jess schwieg eine Weile. Sein Arm lag noch immer um Annes Hals. »Siehst du, Anne.«, fuhr er bald darauf fort. »Du findest sicher, daß ich mich hochtrabend ausdrücke, und die anderen Jungens in der Klasse würden sich halb kaputtlachen, wenn sie mich hörten. Aber wir ,Künstler’ haben das Vorrecht, anders zu sein. Nicht wahr?« Die letzten Worte waren von einem kleinen Lächeln und einem leichten Räuspern begleitet. »Nun ja, was ich versuchen wollte, dir begreiflich zu machen, daß ich noch viel zu jung bin, um wegen meiner Zukunft Pläne zu machen, daß ich jetzt nicht um deine Hand anhalten kann. Und wenn ich sage, ich habe dich gern, dann komme ich mir vor wie der Landstreicher, der es wagt, um die Prinzessin im blauen Berge zu freien - wenn ich zwar auch nicht um dich freie - ich habe nur so das Gefühl, daß es einmal wir beide sein werden, Anne, du und ich - ich habe dich so furchtbar gern, Anne.«
Die Sonne schlug Funken aus dem
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