Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Annes Tränen.
»Was ist denn, Anne?« fragte er wieder. Und dann legte er den Arm um sie und zog ihren Kopf an sich.
Anne erzählte, kurz und mit leiser Stimme. Eine heiße Röte schoß jäh in Jess’ Wangen. »So ein verdammtes Weib!« knurrte er. »Ich an Aspedals Stelle hätte sie übers Knie gelegt und ihr den Hintern verhauen!«
Die letzten Worte rief er in reinstem Dänisch aus, und da mußte Anne lachen. Sie schnaufte noch ein paarmal hoch, dann hatte sie sich wieder gefangen, und Jess setzte den Aufzug wieder in Gang. Im Parterre wurden sie von einem Sturm entrüsteter Bemerkungen empfangen, die Jess lächelnd zurückwies: »Wir können wirklich nichts dafür, daß der Aufzug Mucken hat.«
Anne tanzte mit Klassenkameraden und Lehrern, sie war hübscher als je zuvor. Hatten auch viele der anderen Mädchen elegantere Kleider an, war auch Anne die einzige mit glatten Haaren, so machte ihr das doch nichts aus. So fein wie heute war sie noch nie gewesen. Sie wußte, daß sie hübsch aussah und daß sie unter den Kameraden wohlgelitten war. Und das machte sie frei und glücklich.
Die Lehrer wunderten sich über dies Mädel. Sie wunderten sich, und sie freuten sich zugleich.
»Großartig hat sich die Kleine herausgemacht«, wandte sich Studienrat Heier vertraulich an den Kollegen Bru. »Sie hat das Beste von der Mentalität der Stadtjugend in sich verarbeitet, ohne ihre eigene, festgefügte Persönlichkeit aufgegeben zu haben. Man hat das Gefühl, daß sie mit beiden Beinen fest auf der Erde ihrer Bergheimat steht.«
»Aber Kopf und Herz schweben oben in den Wolken«, lachte Studienrat Bru leise. Und er hatte allen Grund zu dieser Annahme. Denn gerade in diesem Augenblick tanzte Anne mit Jess vorüber. Und genau so einen Gesichtsausdruck mußte man wohl haben, wenn man auf Wolken tanzen durfte.
Krach im Hause Aspedal
Es war zwar ganz gut und schön, daß Anne jetzt unter den Klassenkameraden voll anerkannt und wohlgelitten war. Leider half es ihr nur so wenig. Denn praktisch hatte sie fast nie eine Möglichkeit, außerhalb der Schule mit ihnen zusammen zu sein. Die wenigen Besuche bei Schulfreundinnen waren für sie jedesmal ein Erlebnis - ein leider nur zu seltenes Erlebnis.
Ihre Augen und Ohren sogen alle neuen Eindrücke begierig ein. Viel Schönes gab es in diesen Wohnungen zu sehen. Aber keine war so wie Jess’ Häuslichkeit. Nirgendwo sonst herrschte ein so heiterer und herzenswarmer Ton. Nirgendwo war die Liebenswürdigkeit so selbstverständlich und so tief eingewurzelt. Und das Merkwürdige an Jess’ Familie war, daß dort auch ein Gespräch über alltägliche Dinge interessant, tief und wertvoll sein konnte. Das ganze Haus war wie ein empfindsam gestimmtes Instrument. Ein Instrument, auf dem ständig gespielt wurde, mit feinfühligen Händen.
Wann immer Anne ein Stündlein erübrigen konnte, lief sie schnell einmal zu Frau Daell hinauf. Von Jess sah sie nur wenig. Der Pianist im Orchester war wohl wieder für kurze Zeit zum Dienst erschienen. Aber er war zu früh aufgestanden, hatte einen Rückfall bekommen, und Jess mußte ihn erneut vertreten.
»Du überarbeitest dich noch, mein Junge«, sagte Frau Daell besorgt.
Jess lachte. »Ich und mich überarbeiten? Denk an Anne«, sagte er nur. Nachmittags arbeitete er hartnäckig an seinen norwegischen Aufsätzen, und abends spielte er, sonntags auch noch zur Nachmittagsvorstellung. Und wenn er dann nach Hause kam zu Mutters gutem Essen und Mutters liebevoller Fürsorglichkeit; zu frischgebügelten Hemden und sauber gestopften Strümpfen, dann wanderten seine Gedanken zu Anne, die nur immer gab und gab und nie etwas zurückerhielt. Und außerdem - Jess spielte leidenschaftlich gern. Er freute sich täglich von neuem auf diese abendliche Tätigkeit. Während Anne.
Sie trafen sich außerhalb der Schule kaum. Aber sie wechselten in den Pausen immer ein paar Worte, sie wußten immer Bescheid voneinander, und sie hatten beide das sichere Gefühl, zusammenzugehören. Ihre Freundschaft hatte sich gefestigt.
Aber Anne war jetzt nicht mehr gertenschlank, ihre Haut war nicht mehr hell. Nein, sie war mager geworden, und das Gesicht sah bleich aus. Der Mangel an Schlaf zehrte an ihr.
Frau Aspedal war kein rücksichtsloser Mensch. Sie war nur viel zu viel mit sich selbst beschäftigt. Und gerade jetzt hatte sie ihre eigenen Sorgen, mit denen sie fertig werden mußte. Worin diese eigentlich bestanden, erfuhr Anne niemals. Aber so viel glaubte sie zu
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