Anne - 01 - Anne - 01 - Das Leben wird schöner Anne
Schnee, als Jess sich über Annes leuchtendes Gesicht beugte und sie auf den Mund küßte. »Verstehst du mich, Anne-Mädchen?«
Anne legte den Arm um seinen Hals. »Ich weiß nicht, Jess. Ich weiß nur, daß du für mich der einzige in der Welt bist.«
Sie sagte es in ihrer heimischen Mundart. Es gibt Augenblicke im Leben eines Menschen, da muß er in seiner Sprache reden, und da wird seine Sprache auch verstanden.
Jess packte den Rest ihrer Butterbrote zusammen und schraubte den Becher auf die Thermosflasche. Sie klopften sich den Schnee von den Sachen und schnallten die Skier an. Die Weite lag glitzernd hinter ihnen. Vor sich hatten sie den langen Berg, über den sie soeben mühsam hinaufgekraxelt waren.
Ihre Blicke trafen sich. »Anne.«
»Jess?« - Noch einmal legten sie die Arme umeinander und küßten sich. Dann stieß Anne mit ihren Stöcken in den Schnee und lachte Jess zu. »Traust du dich jetzt, geradeaus abzufahren?« Sie warf den Kopf zurück. Ihr helles Haar schimmerte wie Gold.
»Ja. Jetzt trau’ ich mich!« jauchzte sie, stieß sich ab und sauste den Hügel hinunter. Der Schnee sprühte um sie auf, es krachte unter den Skiern, die Tränen sprangen ihr in die Augen. Aber ihre Beine hielten stand und sie kam stehend hinunter.
Im nächsten Augenblick war Jess neben ihr. »Anne. «
»Jess!«
Sie lachten, lachten gegen die Sonne, lachten sich zu und fuhren dann weiter, in die blinkende Weite hinein.
Abends saßen sie vor dem Kamin, still und stumm. Ringsum sie her wurde geschwatzt und gelacht. Eva Daell betrachtete die beiden jungen Gesichter. Sie verstand. Sie war Frau, und sie war Mutter. Vor ihr konnten sie nichts verbergen.
»Jess!« rief das junge Mädchen, das gestern den Slalompreis gewonnen hatte, das Mädchen mit den blauen Skihosen. »Spiel uns doch ein bißchen vor, Jess.«
»O ja, tu’s!« rief eine andere. »Etwas Hübsches und Stimmungsvolles.«
Jess stand lächelnd auf. Er trat zum Flügel, stand einen Augenblick still. Ihm kam ein Gedanke. Dann ging er auf den Tisch zu, wo die Musiker saßen, vier junge Leute, die späterhin, wenn der Abend vorgeschritten war, unten im großen Saal des Kellers Tanzmusik spielen sollten. Er wechselte ein paar Worte mit dem ersten Geiger. Der nickte und stand auf. Gleich darauf kam er mit einer Violine in der Hand zurück.
Jess winkte Anne zu. Sie erhob sich. Aufrecht und gerade ging sie durch den Raum, der Rock wippte um sie herum. Viele Augenpaare folgten der Gestalt der jungen Anne vom Möwenfjord. Jetzt stand sie am Flügel, stimmte die Violine, tauschte einen Blick mit Jess, und dann spielten sie ihr Menuett. Noch nie hatte Anne ein so bewußtes Glück beim Spielen empfunden, noch nie hatte sie mit solcher Sicherheit gespielt wie heute.
Ihr Programm war nicht groß. Außer dem Menuett kamen noch eine kleine Sonatine und ein paar norwegische Volksweisen an die Reihe. Aber sie spielten gut zusammen, und es war, als ob sich ihre eigene Freude und ihr eigenes Glück durch die Musik auf die Zuhörer übertrugen.
Überraschte Ausrufe, Beifall. Und es war nicht zu leugnen, daß sich das Interesse mehr um Anne sammelte als um Jess. Ja, Anne stand im Mittelpunkt mit ihren drei, vier Geigenstücken, während Jess, der längst schon sein eigenes Konzert hätte geben können, dagegen fast verblaßte.
Frau Daell lächelte. Anne spielte sehr beachtlich, es lohnte sich durchaus, ihr zuzuhören. Aber - Frau Daell wußte auch, daß nichts einem hübschen jungen Mädchen so gut steht wie eine Violine. Der Beifall galt sicherlich ebensosehr der Jugend und dem schönen Anblick wie der Musik. Kurz darauf begaben sich die Gäste in den Tanzsaal hinüber. Eva Daell blieb noch ein wenig mit Jess und Anne sitzen.
»Was ist heute mit dir, Anne?« fragte sie erstaunt. »Irgend etwas ganz Neues ist über dich gekommen.« Anne sah sie an und lächelte.
»Ich bin heute achtzehn Jahre alt geworden«, sagte sie.
»Du garstiges Ding«, sagte Eva Daell, als sie sich zum Zubettgehen auskleideten. »Was soll das, daß du deinen Geburtstag einfach verschweigst? Hättest du nicht gestern etwas sagen können?
Dann hätten wir doch noch Zeit dafür gehabt. Ja, meine Schuld ist es nicht, wenn du einen so langweiligen Geburtstag gehabt hast.«
»So langweilig.«, wiederholte Anne versonnen. Sie stand auf bloßen Füßen und im Pyjama am Fenster. Ihre Augen glitten über die stille, weiße Welt dort draußen. Sie suchten den Bergkamm, den Steinblock hoch oben, wo sie und
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