Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
das Bündel mit Jess’ Briefen hervor und versuchte sich in diese zu vertiefen. Jedes Wort darin war wie eine Liebkosung. Aber es war leider so, daß sie im Augenblick weniger eine Liebkosung brauchte als ein Dach über dem Kopf. Und wenn man keinen Ort zum Wohnen hat, hilft es wenig, wenn einem übers Haar gestrichen wird - auch wenn die streichelnde Hand noch so weich ist! -
In dieser Nacht wurde nicht viel aus dem Schlafen. Anne war müde und blaß, als sie morgens ins Geschäft kam.
Aber sie hatte sich doch schon einen kleinen Plan gemacht. Sie wollte bis zum dritten Januar warten. Wenn sie bis dahin nicht eine einzige Anzeige in der Zeitung gesehen hatte mit dem Text „Zimmer gegen Hilfe im Haushalt“, dann wollte sie selbst eine einrücken. Aber diese Möglichkeit wollte sie erst noch abwarten, um, wenn es irgend ging, eine teure Anzeige mit zweifelhaftem Erfolg zu sparen.
Es machte jetzt nach Weihnachten wenig Spaß im Geschäft. Auf den Regalen und im Lager war viel zu räumen, und es kamen wenig Kunden. Von vieren wollten drei die Waren tauschen. „So ist es immer nach Weihnachten“, sagte Fräulein Tvilde. Sie war ganz gelassen und zu allen gleichmäßig liebenswürdig.
Anne tat ihre Arbeit wie stets, mußte sich aber gewaltig zusammennehmen, um sich zu konzentrieren. Die Gedanken wollten immer wieder zu der schrecklichen Vorstellung abirren, die ständig in ihr lauerte: Obdachlos zu werden!
Und das hatte auch Einfluß auf ihre Arbeit für die Schule. Wenn sie nachmittags und abends über ihrer Rechtslehre saß oder über der Sozialwirtschaft oder Warenkunde, ertappte sie sich oft genug dabei, daß sie keinen Schimmer von dem hatte, was sie las. Da hieß es sich dann zusammenreißen, von vorn anfangen und versuchen, sich den zähen Stoff anzueignen.
Jess schrieb sie nichts von ihren Sorgen. Es hatte ohnehin keinen Zweck. Warum sollte sie ihn damit plagen? Wenn sie eine neue Unterkunft gefunden hatte, wollte sie alles berichten, aber vorher nicht.
Am Altjahrsabend wurde sie von Fräulein Tvilde eingeladen, und darüber freute sie sich. Der Abend wurde friedlich und schön, und bei der Unterhaltung rutschte es Anne heraus, daß das Gespenst der Obdachlosigkeit über ihrem Kopfe schwebte.
„Aber mein gutes Kind“, tröstete Fräulein Tvilde. „Sie können sich drauf verlassen, daß Sie gegen Hausarbeit leicht ein Zimmer finden. Denken Sie doch mal, wie viele Hausfrauen eine Hilfe brauchen!“
„Und denken Sie, wie wenig Familien ein Zimmer über haben“, sagte Anne und lächelte trübe.
„Sie können sich jedenfalls auf mich beziehen, wenn Sie etwas in Aussicht haben“, sagte Fräulein Tvilde. „Ich werde Ihnen ein Zeugnis ausstellen, das Ihnen ein Zimmer im Buckingham Palace verschaffen könnte!“
„Tausend Dank, aber ich fürchte, dann würde der Schulweg doch ein bißchen zu weit werden“, lächelte Anne. Fräulein Tvilde lachte. Dann kam Pettie und wollte, daß man mit ihm schäkerte. Gleich darauf schlug die Uhr zwölf, und Anne und ihre Arbeitgeberin wünschten einander mit einem Glase selbstgemixten Likör ein gutes neues Jahr.
Bis jetzt hatte Anne nicht eine einzige Anzeige gelesen, die für sie in Betracht kam. Aber endlich, am zweiten Januar, fand sie etwas, das sie sich anstrich:
„Behagliches Zimmer an zuverlässiges junges Mädchen gegen zwei Stunden Hausarbeit täglich zu vergeben. Referenzen erforderlich. Anfragen an Frau Regierungsrat Langelie, Prinsensgate 28 zw. 18 und 19 Uhr.“
Noch am selben Tag klingelte Anne bei Regierungsrat Langelie.
Frau Langelie war kurz und geschäftsmäßig. Zunächst fragte sie Anne gründlich aus. Was sie tue, ob sie Zeugnisse habe, warum sie dort, wo sie jetzt war, aufhören müsse. Anne antwortete ruhig und klar und legte die Zeugnisse von Frau Aspedal und Frau Hagensen vor.
„Und außerdem darf ich mich auf Fräulein Tvilde, die Filialleiterin im Schuhgeschäft Chic beziehen“, fügte Anne hinzu.
Frau Langelie schrieb es sich auf.
Dann wurde die Arbeit besprochen. Es war ungefähr wie bei Hagensens - die Fußböden saubermachen, Staub wischen und Geschirr vom vorhergehenden Tag aufwaschen, wenn welches da war. Ja, im allgemeinen sei nicht viel aufzuwaschen, fügte Frau Langelie hinzu -aber hin und wieder komme es natürlich vor -.
Ja, gewiß, das sei recht so. Anne saß da und brannte auf eine Entscheidung.
Endlich wurde ihr auch das Zimmer gezeigt. Es war eine angenehme Überraschung; größer und heller als bei
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