Anne - 02 - Anne - 02 - Anne und Jess, der Weg ins Glück
beide kein Wort.
Er streckte die Arme nach der Tochter aus. Und Britt warf sich hinein. So blieben sie stehen, Vater und Tochter, hilflos, ratlos und stumm. Einer suchte beim anderen Halt.
Anne schlüpfte leise ins Rauchzimmer hinüber. Dort vor dem Kamin lag zum Glück Sanders prächtiger Hund, der Setter Don. Er wedelte sanft, als er merkte, daß er Gesellschaft bekam.
Anne setzte sich auf den Kaminteppich neben den Hund. Sie strich ihm unaufhörlich über das seidenweiche Fell, während sie ihren Gedanken nachhing.
Beim Abendessen war die Stimmung gemütlich. Das Essen schmeckte köstlich, und sie unterhielten sich lebhaft. Natürlich wurde immer wieder und eingehend über das neue Auto gesprochen. Als einmal eine kleine Pause entstand, fragte Herr Sander, wie man auf Möwenfjord Weihnachten feiere. Anne erzählte. Sie fühlte, wie erleichtert die beiden andern waren, daß sie nicht nach Unterhaltungsstoff zu suchen brauchten.
„Im vorigen Jahr bist du Weihnachten sicher bei Jess gewesen?“ fragte Britt.
„Ja, und dies Jahr wäre ich ja bestimmt hingefahren, wenn.“
„Du sollst sehen, nächstes Jahr klappt’s sicher!“ meinte Britt.
„O, ich komme hoffentlich schon vorher mal nach Kopenhagen“, lächelte Anne.
„Darauf können Sie sich freuen“, sagte Herr Sander. „Kopenhagen ist herrlich. In welcher Gegend der Stadt wohnt übrigens Ihr Jess? Wie heißt er doch gleich mit Nachnamen? Daell? War’s nicht so? Ach ja, er ist ja der Sohn vom Kapellmeister Daell!“
„Ja ja. Sie wohnen in Lyngby. Lundtoftevej heißt die Straße. Es ist, glaube ich, ziemlich weit draußen!“
„Ach nein, gar nicht einmal. Zwanzig Minuten mit der Vorortbahn, glaube ich. In Lyngby ist es hübsch, ich bin mehrmals dort gewesen.“
Der Hausherr unterbrach sich plötzlich und verschwand im Rauchzimmer. Anne und Britt blieben beim Nachtisch sitzen. Gleich darauf kam Herr Sander wieder zurück. Er lächelte leise vor sich hin.
„Entschuldigt, Mädelchen, ich hatte was vergessen. Reich mir bitte die Himbeercreme, Britt! Du, dazu möchte ich eigentlich ein Glas Sherry trinken, was meinst du?“
Der Sherry kam auf den Tisch. Dann mußte Anne erzählen, wie sie das erstemal, als sie im Hotel arbeitete, solch fürchterlichen Bock geschossen hatte - als sie einem französischen Gast zum Fisch Sherry anstelle von Weißwein brachte.
Die andern lachten. Anne erzählte andere kleine Erlebnisse aus ihrem Hotelleben. Sie war gerade mitten in einer Geschichte von einem Gast, der eine lebendige Schildkröte und einen Kanarienvogel im Käfig mitgebracht hatte, als das Telefon im Herrenzimmer klingelte.
Herr Sander stand auf und ging an den Apparat. Gleich darauf stand er wieder in der Tür. „So, Anne! Jess ist am Telefon.“
Als Anne an diesem Abend in Sanders Fremdenzimmer mit den weißen Rokokomöbeln und der seidenen Daunendecke schlafen ging, hatte sie fast ein schmerzendes Gefühl.
Wie konnten die Güter dieser Welt nur so ungleich verteilt sein?
Britt lebte in einem wunderbaren Haus. Britt besaß einen Pelz und ein Auto. Britt ahnte nicht, was Geldsorgen waren.
Anne mußte jeden Heller zählen und wie ein Pferd rackern, um ihren Schulbesuch durchführen zu können. Anne mußte sich alles versagen, was für andere junge Mädchen eine Selbstverständlichkeit war.
Annes Vaterhaus lag in einem engen Westlandsfjord, ein Haus ohne Teppiche und Gemälde, ohne Bad und Kühlschrank - ja, sogar ohne elektrisches Licht.
Aber in diesem Hause war Mutter Kristina der sichere, selbstverständliche Mittelpunkt. Möwenfjord strömte Sicherheit aus. Dort herrschten Liebe und Vertrauen zwischen Mutter und Kindern, und die Geschwister waren untereinander gute Freunde.
Und Anne hatte Jess. An eben diesem Abend hatte Jess mit leiser Stimme ein paar kleine Worte ins Telefon gesprochen - ein paar kleine Worte, die noch in Annes Ohren sangen, ein paar kleine Worte, die nur ihr und Jess gehörten.
Anne legte den Kopf auf das Kissen. Glück erfüllte sie, es leuchtete in ihr, die Dankbarkeit breitete sich in ihr aus, so daß sie sich klein und demütig fühlte. „Arme, arme kleine Britt. Armes Brittchen.“
Wie habe ich diesen Reichtum nur verdient, dachte Anne. Sie zog die Daunendecke bis zum Kinn hinauf und schloß die Augen.
Einen solchen Reichtum.
Wohnungssorgen
Es klopfte an Annes Tür zu Hause. Sie stand auf und öffnete.
„Äh - Fräulein Viken - ich muß - könnte ich Sie eben mal sprechen?“
„Bitte nehmen Sie Platz,
Weitere Kostenlose Bücher