Anne auf Green Gables
strenger Haltung am Kamin und strickte. Man sah ihr sofort an, dass sie immer noch zornig war, so düster funkelten ihre Augen hinter den goldgefassten Brillengläsern. Erstaunt drehte sie sich auf ihrem Stuhl um. Eigentlich hatte sie Diana erwartet. Doch stattdessen stand nun ein blasses kleines Mädchen vor ihr, in dessen glänzenden Augen eine Mischung aus Angst, Mut und Verzweiflung lag.
»Wer bist du denn?«, fragte Miss Josephine Barry ohne jede Begrüßung.
»Ich bin Anne von Green Gables«, antwortete das Mädchen mit zittriger Stimme. »Und ich bin gekommen, um ein Geständnis abzulegen.«
»Ein Geständnis?«
»Es war allein meine Idee, Miss Barry. Diana würde es nie einfallen, einfach in ein fremdes Bett zu springen. Dazu ist sie viel zu wohlerzogen. Miss Barry, Sie haben gar keinen Grund, auf meine Freundin böse zu sein.«
»So, es gibt also keinen Grund? Ich würde sagen, Diana war bei dem Sprung letzte Nacht maßgeblich beteiligt!«
»Aber wir haben doch nur Spaß gemacht«, fuhr Anne unbeirrt fort. »Ich glaube, Sie sollten uns verzeihen, Miss Barry - jetzt, wo wir uns bei Ihnen entschuldigt haben. Oder verzeihen Sie wenigstens Diana und lassen Sie sie die Klavierstunden nehmen. Ich weiß nämlich genau, wie einem zu Mute ist, wenn man sich auf etwas freut und es dann doch nicht bekommt. Wenn Sie unbedingt mit jemandem böse sein müssen, dann seien Sie mit mir böse. Ich bin seit frühester Kindheit daran gewöhnt, dass Leute mit mir böse sind, ich kann es besser ertragen als Diana.«
Ein Teil des Zorns war bereits aus den Augen der alten Dame gewichen. Dafür war ihr Interesse an diesem Rotschopf erwacht, der so flehentlich für die Freundin bat.
»Als ich ein kleines Mädchen war, haben wir uns solche Späße nicht erlaubt. Kannst du dir eigentlich vorstellen, was es für eine alte Frau bedeutet, nach einer langen, anstrengenden Reise von zwei hüpfenden Mädchen aus ihrem kostbaren Schlaf gerissen zu werden?«
»Ich weiß nicht, wie das ist, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen«, antwortete Anne eifrig. »Es muss ein unangenehmes Gefühl sein. Aber wenn Sie auch nur ein Fünkchen Phantasie besitzen, dann stellen Sie sich jetzt auch einmal vor, Sie wären an unserer Stelle gewesen: Wir wussten ja nicht, dass jemand in dem Bett lag, und wir sind zu Tode erschrocken, als Sie sich plötzlich unter uns bewegt haben! Außerdem konnten wir Ihretwegen nicht im Gästezimmer schlafen, obwohl man es uns versprochen hatte. Sie sind es wahrscheinlich schon gewohnt, in Gästezimmern zu übernachten. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein Waisenkind und hätten noch nie diese Ehre genossen.«
Inzwischen war auch der letzte Rest Zorn bei Miss Barry verraucht. Sie musste sogar laut lachen - was Diana, die ängstlich draußen in der Küche auf ihre Freundin wartete, einen großen Seufzer der Erleichterung entlockte.
»Ich fürchte, meine Phantasie ist ein bisschen eingerostet - es ist schon eine ganze Weile her, seitdem ich sie zuletzt benutzt habe«, sagte sie. »Doch ich muss zugeben, dein Anspruch auf Mitgefühl ist ebenso begründet wie der meine. Es kommt nur darauf an, von welcher Seite man die ganze Sache betrachtet. Setz dich doch und erzähl mir ein bisschen von dir.«
»Es tut mir Leid, das kann ich nicht«, sagte Anne bestimmt. »Ich würde es zwar sehr gerne tun, weil Sie eine interessante alte Dame und vielleicht sogar eine verwandte Seele sind, obgleich Sie auf den ersten Blick ganz und gar nicht so aussehen. Aber ich muss jetzt nach Hause, Miss Marilla Cuthbert wartet dort auf mich. Sie ist eine nette Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, für meine Erziehung zu sorgen. Sie tut ihr Bestes, aber ich glaube, sie hat es manchmal nicht gerade leicht mit mir. Sie dürfen nicht schlecht über Marilla denken, weil ich in Ihr Bett gesprungen bin, Miss Barry. - Bevor ich gehe, möchte ich Sie aber noch bitten, Diana zu verzeihen und so lange in Avonlea zu bleiben, wie Sie es ursprünglich vorhatten.«
»Nun, das könnte ich vielleicht versprechen — wenn du mich ab und zu besuchen kommst und ein wenig mit mir plauderst«, antwortete Miss Barry.
Am Abend des gleichen Tages schenkte Miss Barry Diana einen silbernen Armreifen und eröffnete den erwachsenen Mitgliedern des Haushaltes, dass sie ihre Reisetasche wieder ausgepackt habe.
»Ich habe mich entschlossen hierzubleiben, um die kleine Anne besser kennen zu lernen«, sagte sie offen. »Sie macht mir Spaß und in meinem
Weitere Kostenlose Bücher