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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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stießen. Vor ihnen hoben sich die Hügel von Avonlea schwarz gegen den roten Himmel ab. Die mächtigen Wellen brachen sich laut an den Felsen unter ihnen und die Luft roch nach frischem Seetang.
    Als Anne wenig später zu Fuß über die alte Holzbrücke kam, winkte ihr das Küchenlicht von Green Gables ein freundliches Willkommen. Durch die offene Tür drang die Wärme des Herdfeuers hinaus in den kühlen Septemberabend. Fröhlich rannte Anne den Hügel hinauf und trat in die Küche, wo schon eine Schüssel heiße Suppe auf sie wartete. »Du bist zurück?« Marilla faltete ihr Strickzeug zusammen.
    »Ja, und ... ach, Marilla, es ist so schön, wieder zu Hause zu sein!«, sagte Anne freudig. »Ich könnte alles umarmen und küssen - sogar die alte Standuhr dort drüben! Aber Marilla, ist das etwa ein gegrilltes Hähnchen? Das hast du doch wohl nicht extra meinetwegen gemacht?«
    »Doch, das habe ich«, sagte Marilla. »Ich dachte mir, du würdest nach der langen Fahrt bestimmt sehr hungrig sein und etwas besonders Leckeres brauchen. Beeil dich und zieh deine Sachen aus. Sobald Matthew hereinkommt, wollen wir essen. Ich bin froh, dass du wieder da bist! Ohne dich war es schrecklich einsam hier. Noch nie sind mir vier Tage so lang erschienen.«
    Nach dem Abendessen setzten sie sich ans Feuer und Anne gab Matthew und Marilla einen ausführlichen Bericht über ihre Erlebnisse in der Stadt.
    »Es war eine wunderbare Zeit - ein Meilenstein in meinem Leben«, schloss sie glücklich. »Aber das Schönste von allem war, wieder nach Hause zu kommen.«

26 - Miss Stacy macht einen Vorschlag
    Marilla legte ihr Strickzeug in den Schoß und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihre Augen schmerzten. Das nächste Mal, wenn sie in der Stadt war, müsste sie ihre Brille erneuern lassen, ihre Augen wurden in letzter Zeit schnell müde.
    Es war November und abends schon sehr früh dunkel. Das einzige Licht in der Küche kam von dem rot glühenden Ahornholz im Ofen. Mit verschränkten Beinen hockte Anne auf dem Boden und starrte unverwandt in die tanzenden Flammen. Sie hatte gelesen, doch ihr Buch war auf den Boden geglitten. In ihren Träumen bestand sie in fernen Ländern wunderbare Abenteuer, die mit den Missgeschicken ihres täglichen Lebens wenig zu tun hatten.
    Marilla betrachtete das Mädchen mit einer Zärtlichkeit, die sie in einem helleren Licht als dieser sanften Mischung aus Feuerschein und Schatten nie zu zeigen gewagt hätte. Offen über ihre Zuneigung zu sprechen und sie in Worten und Blicken auszudrücken - das war etwas, was Marilla Cuthbert in ihrem Leben wohl nie mehr lernen würde. Aber sie hatte gelernt, dieses Mädchen zu lieben, und gerade weil sie dieses Gefühl in sich verbarg, spürte sie es manchmal umso stärker. Sie hatte Angst, vor lauter Liebe zu nachsichtig mit Anne zu werden. Es kam ihr sündhaft vor, ihr Herz so sehr an einen anderen Menschen zu hängen. Vielleicht legte sie sich selbst, ohne es zu wissen, dafür eine Art Strafe auf, indem sie nach außen hin strenger und härter war, als es eigentlich ihren Gefühlen entsprach. Anne wusste nicht, wie sehr Marilla sie liebte. Manchmal dachte sie traurig, dass es sehr schwer war, Marilla zufriedenzustellen, und dass es der alten Frau an Mitgefühl und Verständnis fehlte. Doch dann fiel ihr immer wieder ein, wie viel sie Marilla verdankte.
    »Anne«, brach Marilla plötzlich das Schweigen, »Miss Stacy war heute Nachmittag hier, als du draußen mit Diana gespielt hast.«
    Erschreckt fuhr Anne aus ihren Träumen hoch. »Wirklich? Oh, wie schade, dass ich nicht da war. Warum hast du mich nicht gerufen, Marilla? Was wollte sie denn?«
    »Wir haben uns über dich unterhalten«, antwortete Marilla.
    »Über mich?« Anne sah Marilla ängstlich an. Dann errötete sie und sagte schnell: »Oh, ich weiß schon, was sie gesagt hat. Ich wollte es dir erzählen, Marilla - ehrlich! Ich habe es nur vergessen. Miss Stacy hat mich erwischt, als ich gestern Nachmittag in der Geschichtsstunde heimlich >Ben Hur< gelesen habe. Jane Andrews hat mir das Buch geliehen. Ich habe in der Mittagspause darin gelesen, und gerade als das Wagenrennen begann, hat es zur Stunde geschellt. Ich musste einfach wissen, wer das Rennen gewonnen hat, also las ich unter der Bank weiter. Es war so spannend, dass ich gar nicht bemerkte, wie Miss Stacy zu meinem Platz kam. Auf einmal stand sie neben mir und schaute mich vorwurfsvoll an. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich geschämt

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