Anne Gracie
zum ersten Mal begegneten, waren sie noch ganz klein, doch laut
meiner Tante haben sie erst mal versucht, sich gegenseitig umzubringen – und von
da an waren sie unzertrennlich.“ Sie lächelte Harry an. „Wenn du also
einen Kampf mit Marcus anfängst, wissen wir, dass du auf typisch männliche Art
nur versuchst, Freundschaft mit ihm zu schließen, nicht wahr, meine liebe
Nell?“
Harry
machte ein so entsetztes Gesicht, dass Nell zu Boden blicken musste, um nicht
loszulachen.
Lady
Gosforth fuhr fort. „So und nun lass uns allein, Harry. Ich möchte mit Nell
über ihre Aussteuer sprechen. Du hast sicher auch noch einiges zu erledigen
wegen der Hochzeit.“
Harry sah
seine Tante aus schmalen Augen an.
„Und sieh
zu, dass du etwas Anständiges zum Anziehen findest, statt dieses alten
Gehrocks. Nimm Rafael mit, der Junge ist elegant bis in die Fingerspitzen, er
kann dich beraten. Und wenn du schon mal dabei bist, stell endlich einen
Kammerdiener für dich ein, du kannst weiß Gott einen gebrauchen.“
„Zu Befehl,
General Gosforth“, erwiderte Harry trocken. „Sie ist eine berechnende alte
Tyrannin“, warnte er seine Verlobte. „Lass dich nicht von ihr
fertigmachen.“
„Was meinst
du mit alt?“, protestierte seine Tante gekränkt.
Harry
zwinkerte Nell zu. „Du musst das nicht tun, das weißt du“, sagte er dann
leise.
Sie
lächelte ihn an. „Ja, ich weiß, aber ich möchte es gern.“ Und zu ihrer
Überraschung stimmte das sogar.
Kaum hatte Harry das Zimmer verlassen,
fiel Lady Gosforth Nell um den Hals. „Ich bin so stolz auf Sie, meine
Liebe.“
Nell war
verwirrt. „Warum denn?“
Sie zog
Nell mit sich aufs Sofa. „Wegen der Art, wie Sie eben mit Harry umgegangen
sind. Es war vollkommen richtig, und ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar. Er
braucht seine Familie, aber das würde er bis zu seinem letzten Atemzug
abstreiten. Mein Bruder hat bei all seinen Söhnen einen verheerenden
gefühlsmäßigen Schaden angerichtet, aber nun ist er nicht mehr da, und es ist
mein größter Wunsch, dass diese Familie wieder friedlich zusammenfindet. Ihre
Hochzeit könnte der Beginn dieser Versöhnung werden.“
„Das würde
mich sehr freuen.“
Die ältere
Frau umarmte sie erneut und fuhr dann mit veränderter Stimme fort: „Außerdem
bin ich stolz auf Sie, weil Sie aufgestanden sind und einfach weitermachen,
obwohl ich weiß, wie furchtbar schwer das für Sie ist, meine Liebe.“
Nell wandte
den Blick ab, als sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. „Wissen Sie das
wirklich?“, fragte sie trostlos.
„Ich habe
als junge Frau vier lebende Babys zur Welt gebracht, vier wunderhübsche
Jungen“, sagte Lady Gosforth mit ruhiger Stimme. „Keiner von ihnen hat
seinen ersten Geburtstag erlebt.“
Großer
Gott. Jetzt drehte Nell sich doch wieder zu ihr um, obwohl ihr die Tränen über
die Wangen strömten. „Sie sind alle gestorben.“ So etwas konnte sie sich
nicht einmal vorstellen. „Das tut mir so leid.“
Lady
Gosforth nickte, auch ihre Augen schimmerten feucht. „Meine kleinen Lieblinge.
Bis heute kann ich kein Baby weinen hören, ohne sofort an sie denken zu
müssen.“
„Wie kann
man nur darüber hinwegkommen?“
Die alte
Dame hob die Hände und zuckte mit den Schultern. „Indem man sich ständig
Beschäftigung sucht, so wie wir beide das in den
nächsten Tagen auch tun werden. Gott sei Dank gibt es so etwas wie Einkaufen,
nicht wahr? Und Anproben, Besuche und alles mögliche andere, das man tun kann.
Beschäftigt bleiben, das ist das Einzige, was hilft. Man darf sich nicht der
Verzweiflung anheimgeben.“ Sie erhob sich vom Sofa.
Plötzlich
verstand Nell Lady Gosforths Beziehung zu Harry und seinen Brüdern um so vieles
besser, selbst die zu seinen Freunden. Kein Wunder, dass sie wollte, dass die
vier
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