Anne Gracie
verschwieg sie ihnen. Das ging nur sie ganz allein etwas an.
„Und nun
wissen Sie Bescheid“, schloss sie.
Callie
sprang auf und umarmte sie stumm. Keiner der Männer bewegte sich, alle sahen
den Earl an.
Lange Zeit
herrschte Schweigen, dann räusperte sich der Earl. „Ich habe eine Frage.“
Alle
erstarrten. Nell sah, wie Harry neben ihr die Fäuste ballte. Nell straffte
sich, als stellte sie sich einem Urteil. „Ja, bitte?“
„Ihr Vater ist
tot.“
Nell zuckte
leicht zusammen. „Ja.“
„Und Sie
haben keine weiteren männlichen Verwandten in England?“
„Das ist
richtig“, bestätigte sie mit einem raschen Seitenblick auf Harry. Er
schüttelte den Kopf, als wäre ihm genau wie allen anderen schleierhaft, worauf
der Earl hinauswollte.
Marcus
räusperte sich erneut und sah Nell mit Harrys Augen an. „Dürfte ich dann um die
Ehre bitten, die Braut zum Altar zu führen?“
„Ich traue
ihm immer noch
nicht“, murrte Harry abends im Bett. „Eine ritterliche Geste löscht noch
lange nicht aus, was er in der Vergangenheit getan hat.“
„Aber hat
Nash nicht dasselbe getan? Ihm scheinst du vergeben zu haben.“
„Ja, denn
er war jünger als Marcus. Marcus war immer der Anführer. Außerdem hat Nash sich
letztes Jahr entschuldigt. Und er hat Gabriel und Callie sehr geholfen.“
„Vielleicht
wird Marcus sich auch entschuldigen.“
Er
schnaubte. „Eher schneit es in der Hölle. Er ist viel zu hals starrig, um sich
für irgendetwas zu entschuldigen. Und manche Dinge kann man einfach nicht durch
Worte aus der Welt schaffen.“ Er musste wirklich sehr verletzt worden
sein. „Was hat er dir angetan?“, fragte sie sanft.
Sein Blick
war leer. „Du wirst nicht lockerlassen, nicht wahr?“
„Ich verstehe es nur
nicht. Du weißt, ich werde immer zu dir halten, aber ich würde es gern
verstehen.“
Er seufzte.
„Also gut. Aber mach es dir bequem, es ist eine lange und nicht sehr
interessante Geschichte, sodass du wahrscheinlich darüber einschlafen
wirst.“
Sie
kuschelte sich an ihn, und er erzählte ihr die Geschichte von seiner ersten
großen Liebe Anthea, die ihn auf die schlimmste Art betrogen und heimlich mit
angesehen hatte, wie er erbarmungslos zusammengeschlagen worden war.
Nell war
entsetzt und zornig. Sie umarmte ihn stumm, als könnte sie damit den Jungen von
damals trösten.
Seltsamerweise
fühlte er sich wirklich getröstet. „Danach haben sie mich halb nackt und
blutend auf die Stufen des Londoner Stadthauses meines Vaters in Mayfair
geworfen. Und ausgerechnet da musste mein Vater, der Earl of Alverleigh,
natürlich zu Hause sein“, sagte er verbittert. „Meine erste Begegnung mit
meinem Vater, und ich war halb nackt, blutete und konnte nicht mal
stehen.“
„Warum
haben sie dich dorthin gebracht, wenn du ihn gar nicht kanntest?“
Er zuckte
die Achseln. „Lord Quenborough vertrat zweifellos die Ansicht, dass mein Vater
die Verantwortung für seinen Bastard übernehmen sollte.“
„Und? Hat
er es getan?“
„Er warf
nur einen Blick auf mich und sagte zu seinem Butler: ‚Da draußen auf der Treppe
liegt Unrat. Lassen Sie ihn entfernen.‘ Diese Worte werde ich nie
vergessen.“
Nell
stockte der Atem. „Wie furchtbar herzlos!“
„Dann kam
mein Bruder Marcus die Stufen hinunter und starrte mich mit seinen
erbarmungslosen Augen an. Er sprach kein Wort mit mir. Er starrte mich nur an
und folgte seinem Vater wieder ins Haus. Wie der Vater, so der Sohn.“
„Jetzt kann
ich dich verstehen“, sagte sie, ihn weiter im Arm haltend.
„Es ist sehr schwer, eine solche Grausamkeit zu verzeihen. Es tut mir leid,
dass ich das alles wieder aufgewühlt und alte Wunden aufgerissen habe.“
Harry
küsste sie. Er hatte diese Geschichte noch nie einem Menschen erzählt, nur
Gabriel, und selbst da nicht in allen
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