Anne Gracie
Mittelgang entlang auf ihn zuschritt. Verklärt
lächelnd nahm sie seine Hand, dann drehte sie sich zu dem Geistlichen um.
„Reverend
Pigeon!“, hauchte sie überwältigt. Er war der Vikar ihrer eigenen
Gemeinde, der gütige alte Herr, der sie getauft und ihr in so vielen schweren
Zeiten beigestanden hatte. Tränen rannen ihr über die Wangen, aber das kümmerte
sie nicht.
Und Harry
kümmerte es auch nicht. Sie war seine Braut, die Dame seines Herzens, seine
Madonna, und in der dunklen Schönheit der alten Kapelle schimmerte sie hell
wie eine Perle.
Als sie
zum Haus
zurückgingen, gesellte Barrow sich zu Harry. „Wenn du nichts dagegen hast,
Junge, bleiben wir nicht über Weihnachten, Mrs Barrow und ich.“
„Gibt es
irgendein Problem?“
„Nein,
nein, alle sind sehr nett zu uns gewesen. Nein, es sind die beiden kleinen
Jungen. Ich meine nicht Nicky und Jim, sondern die beiden Babys, die du
erwähntest, als du uns erzählt hast, wie du Torie zurückgeholt hast. Das ist
Mrs Barrow mächtig an die Nieren gegangen. Sie hat die halbe Nacht nicht
schlafen können. Also haben wir uns gedacht, wenn du nichts dagegen hast,
leihen wir uns den jungen Evans aus, fahren nach London und holen sie.“
„Sie
holen?“
„Ja“,
bestätigte Barrow. „Es wird Zeit, dass wieder Leben in den Gutshof kommt. Seit
du und Mr Gabriel erwachsen seid und Nicky und Jim weit weg in Zindaria leben,
ist es im Haus schrecklich still geworden. Das geht ihr auf die Nerven.
Ständig bläst sie Trübsal, weil sie nichts mehr zu tun hat.“
Harry
unterdrückte ein Schmunzeln. Als ob es keine Arbeit gewesen wäre, den Haushalt
für ihren Mann und ein Dutzend Stallburschen zu führen!
„Aber ein
paar kleine Stöpsel großziehen zu können, ist genau das Richtige für Mrs Barrow“,
schloss Barrow.
Harry
nickte. Mrs Barrows üppiger Busen quoll über vor mütterlicher Liebe. Das war
Harry selbst zugutegekommen, Gabriel ebenfalls und eine Zeit lang auch Nicky
und Jim. Dass sie sich Sorgen um die beiden kleinen Waisenjungen machte, die
er erwähnt hatte, überraschte ihn nicht im Geringsten.
„Ja,
natürlich könnt ihr Evans mitnehmen. Rafe und Luke wollen Weihnachten in
London verbringen – sie können euch ebenfalls begleiten. Außerdem gebe ich
euch Geld mit für ein Mädchen namens Tilda.“
„Mit diesem
Mädchen hat Mrs Barrow übrigens auch so ihre Pläne.“
„Mit
Tilda?“
Barrow
nickte. „So ein minderbemitteltes Mädchen kommt leicht auf Abwege, aber unter
den Fittichen meiner guten Frau könnte sie lernen, ein anständiges Leben zu
führen. Wir würden sie vor denen beschützen, die jungen Mädchen nachstellen.
Sie könnte Mrs Barrow mit den Kleinen zur Hand gehen – nur, wenn du nichts
dagegen hast, natürlich.“
Harry
schmunzelte. „Kein Einwand. Das Mädchen hat schließlich Torie das Leben
gerettet.“
„Gut, wir
brechen dann morgen auf.“
„Viel
Glück.“ Harry umarmte seinen Pflegevater. „Aber lass um Himmels willen Mrs
Barrow nicht in dieses Haus hineingehen, es sei denn, du willst sie wegen
Mordes hängen sehen!“
„Rafael,
mein lieber
Junge“, sagte Lady Gosforth, als sich die Hochzeitsgesellschaft zu Tisch
setzte. „Ich habe dich neben einer Freundin von mir platziert, neben Lady
Cleeve. Kümmere dich ein wenig um sie, ja? Sie kennt hier kaum jemanden.“
Rafe sah zu
Lady Cleeve hinüber, einer älteren Dame mit weißem Haar. Er verbarg seine
Enttäuschung und verneigte sich galant. „Es wird mir ein Vergnügen sein, Lady
Gosforth.“
Sie legte
ihm die Hand auf den Arm, um ihn noch einen Moment zurückzuhalten. „Du bist ein
guter Junge, Rafe“, sagte sie. „Frag meine Freundin doch mal nach ihrer
verloren geglaubten Enkelin. Ich denke, du wirst die Geschichte sehr
interessant finden
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