Anne Gracie
Papa mit ins Grab genommen, es blieben nur noch
offene Fragen.
Warum,
Papa, warum?
Der Regen
ging in ein sanftes Nieseln über, Tropfen fielen von der Krempe des Huts. Ihr
Gesicht blieb trocken; sie hatte ohnehin längst keine Tränen mehr.
Als sie das
letzte Mal von zu Hause fortgegangen war, hatte der Sommer gerade angefangen
und die Welt war grün und voller Leben gewesen. Jetzt kehrte Nell zurück, die
Sommerblumen waren verblüht, der Winter nahte und die Natur starb dahin.
Nell
empfand eine geradezu schmerzhafte innere Leere. Zu Hause würde es ihr besser
gehen. Dort konnte sie klarer denken und Pläne schmieden, was sie als Nächstes
tun sollte.
Vielleicht
konnte sie ja sogar schlafen ...
Oh Gott,
wenn sie in jener Nacht doch nur nicht eingeschlafen wäre! Sie hätte ihn
aufhalten können. Aber sie hatte geschlafen und im Schlaf alles verloren.
Seitdem
hatte sie kaum mehr geschlafen. Sie war so müde.
Sie zwang
sich, aufrechter zu sitzen. „Wir sind fast zu Hause, und dann habe ich wieder
Geld. Mit Geld ist schließlich alles möglich, nicht wahr, Freckles?“
Die Hündin
setzte sich schwanzwedelnd auf und leckte ihr über die Nase.
„Vielen
Dank für diesen Liebesbeweis.“ Nell drückte Freckles an sich. Was hätte
sie bloß ohne Freckles gemacht? Die Hündin war ihr so ein Trost und eine so
treue Freundin gewesen.
Freckles
wurde munter und schnüffelte interessiert an den Männerhandschuhen. Sie sah
Nell so hoffnungsvoll an, dass die beinahe gelacht hätte. „Nein, diese
Handschuhe sind nicht für dich.“
Aus
kummervollen braunen Augen blickte der Spaniel zwischen den Handschuhen und
Nell hin und her; ihr Blick drückte unendliches Verlangen, aber auch einen
gewissen Vorwurf aus.
Jetzt
musste Nell wirklich lachen. „Ja, ich bin mir sicher, dass sie sehr interessant
riechen, aber Handschuhe sind nicht für Hunde da. Sieh nur, dort ist
bereits der Kirchturm von St. John's. Noch zwanzig Minuten, dann sind wir zu Hause.“
Zu Nells
Überraschung war
das Haupttor geschlossen. Das war noch nie der Fall gewesen, soweit sie sich
erinnern konnte. Eine Kette war durch die Eisenstäbe gewunden und mit einem
Vorhängeschloss versehen worden.
Verwirrt
ging sie die Mauer entlang bis zu der Stelle, wo, wie sie wusste, ein paar
Steine herausgefallen waren und sich eine Öffnung aufgetan hatte. Freckles
sprang hindurch und Nell folgte ihr.
Sie lief
die Auffahrt hoch. Der Regen hatte aufgehört, aber sie sah keine Menschenseele.
Das kam ihr befremdlich vor. Je mehr sie sich dem Haus näherte, desto stärker
wurde ihr Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Sie stieg die Stufen zum
Haupteingang hinauf und zog am Glockenstrang. Sie hörte das Läuten im Inneren
des Hauses, doch niemand kam, um ihr zu öffnen.
Dann würde
sie eben den Hintereingang nehmen. Die Küchentür war wenigstens nie
abgeschlossen.
„Ja, bitte?
Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Nell schrak
zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann, den sie noch nie zuvor
gesehen hatte. Er war klein, um die dreißig und äußerst korrekt gekleidet. Er
trug eine schwarze Hose und einen taillierten Mantel mit ausgeprägten
Schulterpolstern. Sein schütteres Haar war nach vorn gekämmt, wohl in der
Absicht, die Frisur von Brutus nachzuahmen, was aber keine gute Idee gewesen
war. In der Hand hielt er eine Aktentasche. „Wer sind Sie?“, fragte sie.
Der Mann sah aus wie ein Anwalt.
„Ich bin Mr
Pedlington.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß, als wäre sie ein lästiges
Insekt. „Hier gibt es keine Arbeit“, ergänzte er verschnupft.
Nell
vermutete, dass sie ziemlich verwahrlost aussah. Sie war so weit gelaufen, und
das im Regen und in all diesem Morast. „Ich suche keine Arbeit“, gab sie
freundlich zurück. „Ich wohne hier. Ich bin Nell
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